Mario Draghi fordert Umdenken beim grünen Wirtschaftswachstum

7 Tage vor
Mario Draghi

In Mario Draghis lang erwartetem Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit wird ein grundsätzliches Überdenken des grünen Wachstums in der EU gefordert. Der frühere italienische Ministerpräsident steht zu den Klimazielen der EU, will aber weniger „grün“ und mehr „Wachstum“.

Europa kämpft seit zwei Jahren mit einer Energiekrise und wirtschaftlicher Stagnation. Vor diesem Hintergrund wird der bisherige Konsens, dass Dekarbonisierung und wirtschaftlicher Wohlstand nahtlos Hand in Hand gehen, neu überdacht.

Draghi hält an der orthodoxen Denkweise fest. Saubere Energie werde Europa letztlich vor Preisausschlägen schützen und saubere Technologien böten neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Sein Bericht macht jedoch deutlich, dass Ausgleiche gefunden werden müssen.

„Europa muss sich einigen grundlegenden Entscheidungen stellen, wie es seinen Weg der Dekarbonisierung fortsetzen und gleichzeitig die Wettbewerbsposition seiner Industrie bewahren kann“, heißt es in dem Bericht, der am Montag (9. September) veröffentlicht wurde.

Draghi findet auch ausgewählte Worte für den Green Deal.

In dem Bericht wird darauf hingewiesen, dass der Green Deal „auf der Schaffung neuer grüner Arbeitsplätze beruhte“. Es wird befürchtet, dass der Deal dem politischen Tod geweiht sei, „wenn die Dekarbonisierung stattdessen zu einer Deindustrialisierung in Europa führt“

Pragmatismus

In dem Bericht wird festgestellt, dass „die Energiewende schrittweise erfolgen wird“. Daher wird im Bericht argumentiert, dass „fossile Brennstoffe für den Rest dieses Jahrzehnts weiterhin eine zentrale Rolle bei der Energiepreisgestaltung spielen werden“. Zudem ruft Draghi zu mehr gemeinsamen Käufen von Gas durch die Mitgliedstaaten auf.

Draghi fordert auch niedrigere Energiesteuern, obwohl er einräumt, dass „die Besteuerung ein politisches Instrument zur Förderung der Dekarbonisierung sein kann.“

Außerdem plädiert er für eine stärkere Biegung des EU-Umweltrechts, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu erleichtern. Lockerere Regeln würden „[zeitlich und räumlich] begrenzte Ausnahmen in den EU-Umweltrichtlinien erlauben, bis die Klimaneutralität erreicht ist.“

Industrie: mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche

Die energieintensiven Industrien und die Konkurrenz aus den USA und China spielen eine wichtige Rolle in Draghis Überlegungen. Vor dem Hintergrund, dass die Produktion der energieintensiven Industrien in der EU seit 2021 um zehn bis 15 Prozent zurückgegangen ist, wird in dem Bericht festgestellt, dass „die energieintensiven Industrien in anderen Regionen weder die gleichen Dekarbonisierungsziele haben noch ähnliche Investitionen benötigen, aber von einer großzügigeren staatlichen Unterstützung profitieren“.

Draghi möchte dies ändern. In seinem Bericht plädiert er dafür, mehr Mittel aus dem EU-Emissionshandel (ETS) in die Schwerindustrie fließen zu lassen. Zudem empfiehlt er, im öffentlichen Beschaffungswesen explizite Mindestanforderungen zur lokalen Produktion festzulegen und spezielle öffentliche Förderauktionen für neue „junge Industrien“ durchzuführen.

Draghi stellt den Emissionshandel zwar nicht infrage, verweist aber auf dessen „hohe und schwankende“ Auswirkungen auf die europäischen Energiepreise. In seinem Bericht zeigt er sich nicht überzeugt von der Wirksamkeit des CO2-Grenzzolls (CBAM), der europäischen Unternehmen helfen soll, sich im Wettbewerb mit ihren internationalen Konkurrenten zu behaupten, für die keine CO2-Preise gelten.

Sollte sich der CO2-Grenzzoll als unwirksam erweisen, möchte Draghi, dass die europäischen Unternehmen weiterhin kostenlose Emissionszertifikate erhalten, um sie vor den vollen Auswirkungen des Emissionshandels zu schützen.

Besondere Aufmerksamkeit wird den Automobilherstellern gewidmet. In dem Bericht wird ein „industrieller Aktionsplan für den Automobilsektor“ gefordert.

Mehr Europa

Eine engere europäische Zusammenarbeit ist ein übergreifendes Thema des Berichts.

Anstatt nationale Champions zu fördern, sollte die EU bei der Auswahl der von ihr unterstützten Unternehmen eine Logik auf europäischer Ebene anwenden.

Auch die Planung von Energie- und Verkehrsinfrastrukturen sollte auf die europäische Ebene verlagert werden. Draghi fordert einen neuen Planungskoordinator auf EU-Ebene und ein „28. Rechtssystem“ außerhalb aller nationalen Rechtsrahmen, das den Bau von grenzüberschreitenden Stromverbindungen beschleunigen würde.

Obwohl der Bericht das Potenzial für eine stärkere europäische Zusammenarbeit hervorhebt, stößt er auf dieselben grundlegenden Herausforderungen, mit denen die EU seit jeher konfrontiert ist. Dies sind voneinander abweichende nationale Interessen und das Erfordernis der Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten bei den sensibelsten Entscheidungen.

Draghi räumt dabei ein, dass „die Stärkung der EU Vertragsänderungen erfordert.“ Gleichzeitig betont er jedoch, dass dies „keine Vorbedingung dafür ist, dass Europa voranschreitet“ und dass „mit gezielten Anpassungen viel erreicht werden kann.“

Dazu könnten Mitgliedstaaten gehören, die freiwillig auf ihr Vetorecht verzichten, oder kleinere Gruppen gleichgesinnter EU-Staaten, die zusammenarbeiten.

Mehr vom Gleichen, aber besser

Mehrere scheidende EU-Kommissare werden sich wahrscheinlich bestätigt fühlen, da viele der Empfehlungen des Berichts Fortsetzungen oder Weiterentwicklungen der bestehenden EU-Politik sind. Hierzu gehören beispielsweise die Reform des Strommarkts, beschleunigte Genehmigungsverfahren und grenzüberschreitende Programme zur Technologieentwicklung.

Draghis Empfehlungen sind jedoch auch auf seinen eigenen wirtschaftlichen Hintergrund zurückzuführen. Angesichts der Tatsache, dass die fünf größten Gashändler an einigen europäischen Handelszentren etwa 60 Prozent des Marktes beherrschen, fordert er die Finanzaufsichtsbehörden auf, einzugreifen, um die Energiepreise niedrig zu halten.

Der Bericht wurde von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, in Auftrag gegeben. Es wird erwartet, dass er sowohl in die Aufgabenbeschreibungen für die neuen Kommissare als auch in die neue EU-Strategie für eine saubere Industrie einfließen wird, die innerhalb der ersten 100 Tage von von der Leyens neuer Amtszeit ausgearbeitet werden soll.

*Nikolaus J. Kurmayer hat zur Berichterstattung beigetragen

[Bearbeitet von Owen Morgan/Kjeld Neubert]

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