„Tatort“ aus Göttingen: Zurück zu Furtwänglers Solonummer

Partystimmung im Göttinger Polizeipräsidium. Dezernatsleiter Gerd Liebig (Luc Feit) feiert 60. Geburtstag, seine Dankesansprache ist herzlich sperrig. Für die Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) Anlass, mit Anlauf in den Fettnapf zu springen. Nicht verkneifen kann sie sich süffisante Bemerkungen zur sympathischen Unbekannten, die sich als Liebigs Ehefrau Tereza (Bibiana Beglau) entpuppt. Das Verstimmungspotential wird weggelächelt.

Anders bei Gerichtsmediziner Nick Schmitz (Daniel Donskoy): Er motzt den Paketzusteller an, der kurzfristig georderte Feierartikel abliefert. Einzig Lindholm, gerade noch zwischenmenschlich begriffsstutzig, ist jetzt vollendet empathisch, sieht als Einzige die Not des übermüdeten, gestressten Lieferanten. Der gleich darauf ungebremst mit seinem Fahrzeug in eine Menschengruppe rast. Eine Frau stirbt, es gibt Schwerverletzte, unter ihnen ist der rumänische Kurierfahrer Ilie Balan (Adrian Djokic) selbst.

War es eine Amokfahrt, ein Terroranschlag – oder das Resultat unmenschlicher Arbeitsbedingungen in der Paketdienstbranche? Tereza Liebig ist Ärztin, hilft sofort bei der Erstversorgung der Opfer. Warum eigentlich hat Liebig die Bekanntschaft mit seiner tollen Frau den Kolleginnen bislang vorenthalten? Das fragt sich Lindholm immer mehr.

Zu gewollt, der Anspruch, auf Missstände hinzuweisen

Dieser finale „Tatort“ aus Göttingen dreht sich einerseits um die Arbeitsbedingungen im Paketdienstgewerbe. Andererseits schiebt sich, je länger die Ermittlungen dauern und nachdem die Strukturen von Sub-Sub-Unternehmensverhältnissen diskursiv abgearbeitet worden sind, eine zweite Ebene in den Vordergrund. Es geht um den Verdacht häuslicher Gewalt und die Möglichkeiten der Betroffenen, Hilfe zu erhalten, bevor es zu spät ist. Das Drehbuch von Christine Hartmann (auch Regie) nach einer Vorlage von Stefan Dähnert braucht dabei allerhand Konstruktionskrücken, um beide Felder miteinander zu verknüpfen. Als Zuschauer muss man schon außergewöhnlich gutmeinend sein, um die Unwahrscheinlichkeiten und Zufälle der persönlichen Verbindung zentraler Figuren hinzunehmen. Leider wird man auch bei großem Verständnis für die berechtigten Anliegen dieses Krimis nicht recht warm mit „Geisterfahrt“. Zu gewollt ist der Anspruch, auf Missstände hinzuweisen. Zu sichtbar der Wunsch, das latente Beziehungsdreieck der Kommissarin Anais Schmitz (Florence Kasumba), ihres Ehemanns Nick (Donskoy) und der vorübergehend nicht mehr so einsamen Wölfin Lindholm (Furtwängler) zu konkretisieren, alles zu Ende zu erzählen und nichts offen zu lassen.

Dem Ermittlerinnenduo, das wieder einmal getrennte Recherchewege geht, wäre eine berufliche Zuspitzung ihres von jeher virulenten Teamproblems zu wünschen gewesen. Warum die Rivalität zweier „Alpha-Frauen“ (wie es redaktionsseits beim NDR stets hieß) sich nun ausgerechnet im Privaten, nämlich in der Zuneigung zu Nick Schmitz erschöpft, bleibt das Geheimnis des Göttinger „Tatorts“. Florence Kasumbas Rolle ist insbesondere in „Geisterfahrt“ weniger interessant gestaltet als die von Furtwängler.

2019, als die aus Hannover nach Göttingen strafversetzte Kommissarin Lindholm zum ersten Mal mit Kommissarin Schmitz gemeinsam, oder eher an ihr vorbei, ermittelte, durfte man auf Krimithemen auf der Höhe der Zeit hoffen. Alltagsrassismus, Diversität, Teamfähigkeit, Frauen-die-ihr-Ding-machen-Zuspitzung, das war hier auf dem Tapet und hätte sich entwickeln können. Lindholms Rolle aber schob sich mit ihren Problemen, Sichtweisen und ihrer Sozial-Unverträglichkeits-Pose in die Poleposition. Das ist schade und eine ungenutzte Chance.

Trailer : „Tatort: Geisterfahrt“

Video: ARD Presseservice, Bild: NDR/Christine Schröder

Dieses Mal diskutiert Lindholm mit einem Manager des fiktiven Paketdienstes DDP über Arbeitgeberverantwortung, bespricht mit einer Therapeutin die Schwierigkeiten von (nach außen) erfolgreichen Frauen, sich bei häuslicher Gewalt zu offenbaren, stellt sich gegen die Polizeipräsidentin (Wiebke Puls), konfrontiert den Subunternehmer Mischa Reichelt (Christoph Letkowski), dessen Frau Jutta (Lea Willkowsky) ausgerechnet die betreuende Krankenschwester des Unfallfahrers und Mitarbeiterin der Stationsärztin Tereza Liebig ist. Schmitz bleibt der Part professioneller, geradezu stoischer Gelassenheit.

„Geisterfahrt“ ist ein schwacher, unauffällig von Peter Nix’ Kamera gestalteter Abschied von Göttingen, trotz Bibiana Beglau und Luc Feit, die ihre Parts eindrücklich spielen. Strukturelle und menschliche Probleme des Paketliefergewerbes hat der Kölner „Tatort: Des anderen Last“ vor Kurzem intensiver dargestellt; Bjarne Mädel als Paketzusteller Volker in „Geliefert“ ist auch noch bestens in Erinnerung. Das Kapitel Göttingen ist für den „Tatort“ abgeschlossen. Lindholms Buße ist vorbei. Für das Ehepaar Schmitz hält das Drehbuch Karriere-Trostpreise zum spannungsarmen Ende bereit.

Der Tatort: Geisterfahrt läuft am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

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