Charakterdarsteller, Umweltschützer, Filou: Leonardo DiCaprio hat ...
Der Kalifornier kann alles. Gesicht und Auftritt eignen sich genreübergreifend. Cinephile sehen den ambitionierten, kühnen Darsteller – wie derzeit im neuen Film von Scorsese –, «Gala»-Leser sehen einen Mann auf Jachten.
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Leonardo DiCaprio, 48 Jahre alt, geboren in West Hollywood, Los Angeles, hat drei Standbeine. Er ist erstens ein herausragend guter Schauspieler. Zweitens ist er ein rastloser Umweltaktivist, dem gleichzeitig die eigene, dem Jetset-Leben geschuldete CO2-Bilanz vorgehalten wird. Und drittens verteidigt der Mann seinen Ruf, ein ewiger Junggeselle zu sein, ein Filou mit Freundinnen, halb so alt wie er selbst.
Seine Fähigkeiten als Schauspieler stehen nicht zur Diskussion. DiCaprio kann alles nur Erdenkliche darstellen, den Geier im Massanzug («The Wolf of Wall Street»), den abenteuerlustigen Bärentöter aus dem frühen 19. Jahrhundert («The Revenant»); auch in der Rolle der Heulsuse, die früher einmal ein Starschauspieler war, wirkt er gar nicht deplatziert («Once Upon a Time in Hollywood»).
Gesicht und Auftritt eignen sich genreübergreifend. Selbst wenn DiCaprio einen komplett verrotteten Bastard spielt (den Sklavenhalter Calvin Candie in «Django Unchained»), bleibt er fast verwirrend zugänglich. Ambivalente Charaktere kann er besonders gut, weil nie viel fehlt vom Lächeln zur Fratze. Mit den hohen Geheimratsecken und Bumerang-Augenbrauen macht er ein diabolisches Gesicht wie Jack Nicholson.
Neustart nach «Titanic»Leonardo DiCaprio ist eine Ausnahmeerscheinung. Eigentlich sei er «der letzte Star», schreibt das tonangebende Branchenblatt «Hollywood Reporter». Allenfalls noch Tom Cruise umgibt eine vergleichbare Aura, doch ist dieser trotz gelungenen Abstechern ins ernstzunehmende Kino (Kubrick, Paul Thomas Anderson) immer ein Kind des Action-getriebenen Blockbusters geblieben.
Anders DiCaprio, der mit dem knuffigen Babyface bequem bei der frühen Paraderolle des Herzensbrechers hätte bleiben können: Nach «Romeo + Juliet» und «Titanic» fing er noch einmal von vorne an. Nichts Seifiges wollte er mehr spielen, stattdessen sollten Regisseure mit Kante her. Unter einem Scorsese oder Tarantino macht er es heute nicht mehr (Fernsehen und Serien, das mickrige Kleinformat, kommt für ihn ohnehin nicht infrage).
DiCaprio dreht wenig. Doch einmal am Set, dreht er so viel wie möglich: Jede Szene soll so oft wiederholt werden, bis der Star damit leben kann. Der Regisseur James Cameron hat eine eiserne Regel: An einer Szene, die nach zwanzig Durchläufen nicht sitzt, ist grundlegend etwas faul. So eine Szene gehört gestrichen. Für DiCaprio ist das die falsche Einstellung. Bei «Titanic» gerieten der Regisseur und der Star aneinander, weil Letzterer eine Szene nicht verloren geben wollte. «Der ist noch perfektionistischer als ich», soll sich Cameron geärgert haben.
Die JugendsündeEs gibt einen Film, für den sich Leonardo DiCaprio in Grund und Boden schämt: «Don’s Plum». Zusammen mit seinem Freund und Co-Star Tobey Maguire hat er die Jugendsünde juristisch aus dem Verkehr zu ziehen versucht. Der Regisseur, ein R. D. Robb, habe seinerzeit, Mitte der neunziger Jahre, ohne ihr Wissen statt einen Kurz- einen Langfilm realisiert, klagten die Schauspieler. Der wahre Grund, weshalb die Sache vor Gericht ging, dürfte aber gewesen sein, dass die Stars sich für die pubertäre Billigproduktion genierten.
Der Film, der tatsächlich in Amerika, nicht aber in Europa verboten wurde, handelt von vier Freunden, die Frauen aufgabeln und eine Nacht lang mit ihnen im Diner sabbernd über Sex reden. «Don’s Plum» ist unangenehm schlecht, aber aus zwei Gründen gibt der Film für die Analyse etwas her: Der Gang vor Gericht belegt, wie ernst es DiCaprio mit seinem Image ist. Und ausserdem macht manchmal gerade die unfähigste Regie sichtbar, was in einem Darsteller wirklich steckt.
Leonardo DiCaprio mag nicht zu dem Werk stehen, aber es beweist, wie er über einem Werk steht. Ein Film kann peinlich sein, DiCaprio kann es nicht. Schon damals zeigte sich, dass er ein phänomenaler Schauspieler ist. Aber dass er zum Phänomen werden sollte, hat noch andere Gründe. Entscheidend ist das Gesamtbild, und zu diesem gehören auch DiCaprios ökologischer und sein promiskuitiver Aktivismus.
DiCaprio ist auch ein Käfer und ein BaumIn welchem Feld sich der Mann vordergründig betätigt, ist nicht immer ganz leicht zu sagen. Auf seinen offiziellen Kanälen (19 Millionen Follower auf Facebook, 61 Millionen auf Instagram) ist er praktisch nur als Naturschützer präsent. Die Profile erzählen statt vom Filmstar von bedrohten Arten. Anstrengungen, den Grossen Salzsee in Utah vor dem Vertrocknen zu bewahren, sind Thema, ebenso die von DiCaprio geförderte Suche nach ausgestorben geglaubten Tierarten, Pflanzen und Fungi.
Fans und Reptilienforscher wissen, dass DiCaprio kürzlich eine neu entdeckte Schlange nach seiner Mutter Irmelin benannt hat, «Sibon irmelindicaprioae». Es gibt ausserdem einen Baum, der wie der Schauspieler heisst: «Uvariopsis dicaprio» steht im Regenwald von Ebo in Kamerun. In Borneo hat man den Käfer «Grouvellinus leonardodicaprioi» gefunden.
Wer nach Neuigkeiten über Leonardo DiCaprio sucht, landet fast zwangsläufig auch in dessen «dating history». Denn in der Regel hat der Star schneller eine neue Freundin als einen neuen Film. Die Topmodels Bar Refaeli, Gisele Bündchen und Toni Garrn gehören zu seinen Verflossenen.
Gegenwärtig ist DiCaprio laut den einschlägigen Blättern mit einem italienischen Model, Vittoria Ceretti, liiert. Ceretti ist 25 Jahre alt und damit am oberen Ende der Altersgrenze. Nach allem, was man bzw. Wikipedia weiss, hatte Leonardo DiCaprio noch nie eine Partnerin, die älter war als Mitte zwanzig. Bei einer Preisverleihung sagte es Ricky Gervais, der giftige britische Komiker, einmal so: «Leonardo DiCaprio war bei der Premiere, und an deren Ende war sein Date zu alt für ihn.»
Mit Vittoria Ceretti meint es DiCaprio nun aber ernst, so ist zu lesen. Das Paar soll in Mailand, im Beisein von DiCaprios Mutter Irmelin Indenbirken, bei einem Besuch der Pinacoteca Ambrosiana gesichtet worden sein.
In deren Sammlung gehört «Das Bildnis eines Musikers» von Leonardo da Vinci zu den bekanntesten Werken. Ob die Mutter den Sohn vor dem Gemälde zur Seite genommen und gesagt hat: «Schau, von ihm hast du deinen Namen» – das weiss man nicht. Der Legende nach stand Indenbirken jedenfalls schon vor knapp 50 Jahren vor einem Gemälde von da Vinci – damals in den Uffizien in Florenz –, als sie von ihrem Baby im Bauch getreten wurde. Daraufhin taufte sie das Kind Leonardo.
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Die Auswanderin Irmelin Indenbirken aus dem nordrhein-westfälischen Oer-Erkenschwick hatte am College in New York den Comic-Buch-Autor und -Verleger George DiCaprio kennengelernt. Dieser wurde in den 1970er Jahren in der alternativen Comic-Szene an der Westküste eine Grösse. Er arbeitete mit Laurie Anderson zusammen, mit LSD-Papst Timothy Leary; auch Bukowski war ein Freund. Der Regisseur Baz Luhrmann nannte George DiCaprio den «Zelig der Gegenkultur», eine Woody-Allen-artige Hippie-Figur.
Wenn Leonardo DiCaprio in seltenen privaten Äusserungen von seinem Aufwachsen erzählt, schwärmt er von seinen Bohémien-Eltern, schildert aber auch die missliche Nachbarschaft in Los Angeles, wo er schon als kleiner Junge die Prostituierten an der Strassenecke sah, die Drogendealer. Gleichzeitig habe ihn die Misere früh für die Versuchungen und Fallstricke in Hollywood gerüstet, gibt der Star in Interviews zu Protokoll. Der Jungstar Timothée Chalamet verriet, dass ihm Leonardo DiCaprio einst zwei Ratschläge für die Karriere gegeben habe: «Keine harten Drogen und keine Superheldenfilme.»
In der beiläufigen Bemerkung versteckt sich der Schlüssel zu DiCaprios Erfolg. Der Star ordnet sich keiner Marke unter, er will selber die Marke sein. So wie viele Leute in einen Film gehen, weil etwa Marvel draufsteht, gehen andere in einen Film, weil DiCaprio drin ist. Er ist ein Gütesiegel für feines Handwerk aus der grossen Kiste.
Für den Hang zu epischen Stoffen spricht allein die Laufzeit seiner Werke. Seit «Revolutionary Road» von 2008 (119 Minuten) hat die Caprio keinen Film mehr gemacht, der die Zwei-Stunden-Marke unterschreitet. Leonardo DiCaprio ist ein Mann, der weiss, was ihm gefällt: grosse Frauen, lange Filme.
Der KlimafliegerEs ist die Kombination, die ihn für unterschiedliche Zielgruppen anschlussfähig macht. Cinephile sehen den ambitionierten, kühnen Darsteller, der nur für die besten Regisseure auftritt, «Gala»-Leser sehen einen Mann auf Jachten.
Er ist omnipräsent und doch schwer einzuordnen. Liberale finden den Gewinner erfrischend, der seinen Erfolg auskostet. Männer schätzen ihn, weil er ein Kerl ist, Frauen auch. Er ist grün, sehr grün, aber er lässt sich den Spass nicht nehmen. Er erörtert mit António Guterres den Klimawandel, dann jettet er weiter zur nächsten Party nach Ibiza. Die einen sind die Klimakleber, DiCaprio ist ein Klimaflieger. Vielleicht ist er verlogen, vielleicht einfach ehrlich.
Es gibt Berühmtheiten, die für ihre Bodenständigkeit gerühmt werden. Aber Sterne gehören nicht auf den Boden. Stars strahlen über uns, sie müssen unerreichbar sein. So wie Leonardo DiCaprio, der naturverbunden ist und gleichzeitig abgehoben.
sca. · Im neuen Film von Martin Scorsese, «Killers of the Flower Moon», beweist sich der janusköpfige Blonde in einer besonders komplexen Rolle: Leonardo DiCaprio verkörpert einen amerikanischen Kriegsheimkehrer in den 1920er Jahren. Zurück in Oklahoma, heiratet der einfache Mann in den Stamm der Osage hinein. Eine Indigene ist seine grosse Liebe. Oder spekuliert er bloss auf Bodenrechte? Bei den Osage sprudelt das Erdöl nämlich im hohen Bogen aus dem Grund. Eine wahre Geschichte ist das, die Identitätspolitik steht kopf: Ureinwohner sind Superreiche, der weisse Mann muss schauen, wo er bleibt. Bald sterben Stammesmitglieder seltsame Tode. Scorsese macht jetzt also auch True Crime, auf dreieinhalb Stunden überstrapaziert er den uramerikanischen Fall über die Gier etwas. Die Spannung hat sich schnell erübrigt, doch wie DiCaprio den unlesbaren Simpel spielt, durch Heben und Senken der Stirnfurchen, durch das Vorschieben des Unterkiefers – das macht ihm keiner nach.