Olympia 2024: Wie Schwimmer Léon Marchand Grenzen verschiebt

Ein Fisch? Oder doch ein Mensch? Léon Marchand definiert das Schwimmen neu

Der Franzose gewinnt innerhalb von zwei Stunden zwei olympische Goldmedaillen in zwei völlig unterschiedlichen Disziplinen. Das Double über 200 m Delfin und 200 m Brust ist einzigartig in der Geschichte des Schwimmens. Der Schweizer Noè Ponti überzeugt im Delfinrennen mit einem 5. Rang.

Leon Marchand - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Der Schweizer Noè Ponti (oben) lässt sich mitziehen: Léon Marchand unterwegs zu Olympiasieg über 200 m Delfin.

Ashley Landis / AP

Die Marchand-Festspiele in Paris gehen weiter, und bei jedem seiner Finalrennen wird die Stimmung im Schwimmstadion noch exaltierter. Geht das so weiter, fliegt irgendwann das geschwungene Dach über der Arena weg, die wie eine gestrandete Arche Noah im Quartier La Défense liegt. Und es könnte durchaus weitergehen.

Mitten im Trubel war an diesem Abend Noè Ponti, der 23-jährige Star einer Sportart, die sich auch in der Schweiz im Aufwind befindet. Von der Stimmung vor dem Rennen über 200 m Delfin liess er sich beflügeln: «Ich sagte mir einfach, dass sie für mich schreien.» Ponti zeigte ein starkes Rennen, mit 1:54,14 schwamm er exakt gleich schnell wie am Vortag und egalisierte damit seinen Landesrekord.

Das reichte für den 5. Rang – ein ausgezeichnetes Ergebnis in der Weltsportart Schwimmen. Ein solches gelang auch Roman Mityukov, der sich mit der zweitbesten Zeit des Abends souverän für den Final über 200 m Rücken qualifizierte.

Als würde sich Marchand in einen Fisch verwandeln

Aber was sind schon ausgezeichnete Leistungen, wenn im gleichen Rennen fast Unglaubliches passiert? Léon Marchand bewies, dass er nicht zu Unrecht als grösster Schwimmer der Gegenwart gefeiert wird, obwohl er erst 22 Jahre alt ist. Der Franzose war im Kampf um Gold der Aussenseiter, denn neben ihm schwamm der Ungar Kristof Milak, der mit 1:50,34 den Weltrekord in dieser kräfteraubenden Disziplin hält.

Milak schien kurzen Prozess machen zu wollen und flog auf den ersten 50 Metern mit seinen kraftvollen Armzügen regelrecht davon. Marchand machte mit seiner grandiosen Unterwassertechnik bei jeder Wende deutlich Boden gut, doch Milak zog danach immer wieder weg. Nach 150 Metern lag der Ungar 72 Hundertstel vorne. Doch dann schien sich der Franzose in einen Fisch zu verwandeln, der mit kräftigen Schwanzschlägen durchs Wasser pfeilt. Und nach dieser letzten Unterwasserphase war er plötzlich auch über Wasser unwiderstehlich. Er steigerte seine Bestzeit um über 1,7 Sekunden und siegte in 1:51,21.

Doch damit war erst die Hälfte der herkulischen Aufgabe bewältigt, die er sich für diesen Abend vorgenommen hatte. Also rasch das Minimum an Interviews und die Medaillenfeier hinter sich bringen. Der DJ legte danach «Alors on dance» von Stromae auf, doch tanzen war bei Marchand definitiv nicht angesagt. Er musste die Beine hochlagern und darauf vertrauen, dass die vielen, vielen Kilometer im Bassin nun dem Körper dabei helfen, sich schnell zu erholen.

Ausdauer ist dabei ein entscheidender Faktor. Für die Schwimmer ist sie besonders wichtig, denn oft bestreiten sie an Titelkämpfen mehrere Disziplinen und haben zwischen den einzelnen Läufen nur kurze Pausen. Marchand ist ein extremes Beispiel dafür. Am Sonntag wurde er Olympiasieger in der anforderungsreichsten Disziplin des Schwimmens, 400 m Lagen. Am Dienstag schwamm er am Vormittag die Vorläufe über 200 m Delfin und 200 m Brust, am selben Abend trat er in beiden Disziplinen zu den Halbfinals an.

Das ist ein Mammutprogramm mit kurzen Pausen: 2 Stunden waren es am Vormittag, danach gab es acht Stunden Erholung – und dann noch einmal zwei Rennen innerhalb von nur 90 Minuten. Der französische Verband gab ein paar interessante Details zu Marchands Erholungsfähigkeit bekannt. Drei Minuten nach jedem Einsatz wurde das Laktat in seinem Blut gemessen.

Selbst die Betreuer machen grosse Augen

Laktat ist ein Abbauprodukt des Stoffwechsels, das bei intensiver Anstrengung in grossen Mengen entsteht. Wie hoch ein Laktatwert nach einer Anstrengung ist, sagt viel darüber aus, wie sehr der Athlet an seine Grenzen gehen musste; wie schnell er absinkt, ist ein Indikator für die Erholungsfähigkeit. Von Marchand ist bekannt, dass am Donnerstag die Werte nach den Halbfinals gleich waren wie nach den morgendlichen Vorläufen. Dies, obwohl der 22-Jährige im Delfin 1,44 Sekunden schneller schwamm und im Brust sogar 1,76 Sekunden.

Als die Betreuer die Werte nach einer Erholungspause massen, machten sie grosse Augen. «Ich habe das Glück, dass ich diese Woche in Form bin», sagte Marchand, «ich kann so schnell schwimmen, wie ich will.» So einfach ist das, wenn man ein Ausnahmetalent ist. Und nur ein solches kann auf die Idee kommen, das Unmögliche zu versuchen.

Marchands Coach Bob Bowman war ursprünglich dagegen, dass der Schwimmer das Double Delfin/Brust versucht. Der US-Amerikaner bezeichnete die Idee als bizarr. Marchand sagte dazu: «Ich liebe das Bizarre.» Und als das einmal klargestellt war, arbeiteten die beiden konsequent auf das Ziel hin, wobei die Erholungsfähigkeit genauso im Fokus war wie das Schwimmerische.

All das zahlt sich aus. Marchand erdrückt die Konkurrenz im Rennen über 200 m Brust. Mit 2:05,85 schwimmt er auch hier so schnell wie nie zuvor. Nun strebt er über 200 m Lagen das vierte Einzelgold an.

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