Ukrainischer Vorstoss nach Kursk: Russische Armee unter Druck

Nach überraschendem Vorstoss über die Grenze kontrollieren ukrainische Kämpfer mehrere Dörfer in der russischen Region Kursk

Kursk - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Der russischen Armee ist es auch nach mehr als 24 Stunden noch nicht gelungen, die ukrainischen Angreifer zurückzuschlagen. Viele Details und auch das konkrete Ziel des Vorstosses bleiben im Unklaren.

Ein Haus in der Stadt Sudscha, das laut den russischen Behörden durch ukrainischen Beschuss zerstört wurde.

Acting Governor of Kursk Region / Reuters

Das Kriegsgeschehen hat sich auf russisches Territorium ausgeweitet. Auch 24 Stunden nachdem ukrainische Soldaten am Dienstagmorgen aus der Region Sumi in der Nordostukraine in die russische Oblast Kursk eingedrungen sind, halten die dortigen Kämpfe an. Dazu gehört Beschuss aus der Luft.

Mehrmals wurde seit dem Angriff für die Region Kursk Raketenalarm ausgelöst. Der Gouverneur Alexei Smirnow sprach am Dienstagabend von mehreren zivilen Opfern auf russischer Seite. Tausende von Bewohnern sollen demnach die Region verlassen haben. Trotz anderslautenden Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau ist es der russischen Armee allem Anschein nach bisher nicht gelungen, die ukrainischen Kräfte über die Grenze zurückzudrängen.

Russische Militärblogger berichten, dass sich einige grenznahe russische Dörfer wie Swerdlikowo und Gogolewka, die entlang von Zugangsstrassen zur Kleinstadt Sudscha liegen, weiterhin unter ukrainischer Kontrolle befinden. Die ukrainische Armeeführung äussert sich, wie üblich, nicht zum gegenwärtigen Kampfgeschehen.

Einer der grössten Angriffe auf russisches Territorium

Das russische Verteidigungsministerium sprach am Dienstagabend von mehr als 300 Soldaten und Dutzenden von gepanzerten Fahrzeugen, die am Vorstoss beteiligt gewesen sein sollen. Demnach wäre dies einer der grössten Angriffe auf russisches Territorium seit Kriegsbeginn. Die ukrainischen Angreifer haben laut dem Ministerium grosse Verluste erlitten. Wie die meisten Angaben zum Vorstoss lässt sich das bisher nicht unabhängig überprüfen.

Im Kriegsverlauf hat es bereits mehrere Vorstösse in russische Grenzregionen wie Kursk und Belgorod gegeben. Meist waren auf der Seite Kiews kämpfende russische Verbände wie das Russische Freiwilligenkorps daran vornehmlich beteiligt. Das Online-Portal «New Voice of Ukraine» berichtet mit Verweis auf Quellen im ukrainischen Militärgeheimdienst, dies sei bei diesem Angriff nicht der Fall. Der Militärgeheimdienst koordiniert die Aktionen der Freiwilligenverbände.

Russland muss Verbände verlegen

Zum Zweck solcher isolierter Vorstösse auf russisches Territorium gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Das wichtigste Ziel der ukrainischen Streitkräfte besteht zurzeit zweifellos darin, das kontinuierliche Vorrücken der russischen Armee im Donbass aufzuhalten. In der etwa 200 Kilometer nordwestlich von der Front gelegenen Region Sumi, von wo der Vorstoss ins Gebiet Kursk ausging, befinden sich keine russischen Truppen auf ukrainischem Territorium. Die Region wird aber regelmässig aus Russland beschossen.

Der ukrainische Angriff auf einen relativ schwach geschützten Grenzabschnitt könnte deshalb auf eine Verlegung russischer Einheiten abzielen, die dadurch nicht mehr für Offensiven in der Ukraine eingesetzt werden können. Russische Militärblogger berichten etwa, dass eine tschetschenische Einheit ins Grenzgebiet verlegt worden sei.

Allerdings bindet der Vorstoss natürlich auch ukrainische Kräfte. Diese zu ersetzen, fällt der Ukraine wegen des Ungleichgewichts der Ressourcen grundsätzlich schwerer als Russland.

Wichtiger Punkt für Gastransit

Einige russische Kommentatoren sprechen deshalb von einem PR-Manöver, um von den Rückschlägen im Donbass abzulenken. Russische und ukrainische Quellen berichteten am Dienstagabend, dass russische Soldaten auf das Stadtgebiet von Torezk vorgedrungen seien. Russland hat in den vergangenen Wochen die Angriffe auf die nördlich von Donezk gelegene Stadt intensiviert.

Nach den Rückschlägen der vergangenen Wochen kommt Kiew eine einigermassen spektakuläre Aktion sicherlich gelegen. Der Vorstoss trägt zudem den Krieg erneut auf das Territorium des Angreifers, was auch einen psychologischen Effekt auf die russische Bevölkerung hat, zumindest in unmittelbarer Grenznähe.

Ohne taktische Hintergedanken lässt sich der relativ grosse Einsatz von Material und Personal beim Vorstoss in der Region Kursk dennoch kaum rechtfertigen. Der russische Telegram-Kanal «Dwa Majora» verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung der Region für den Transit von russischem Gas. Bei Sudscha befindet sich der letzte verbliebene Einspeisepunkt für den Transit russischen Gases über die Ukraine nach Westen. Seit Ausbruch der Kämpfe ist das Transitvolumen auf 7 Prozent des üblichen Werts gefallen.

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