Parlamentswahl in Großbritannien: Was die neue britische ...

3 Tage vor
Parlamentswahl in Großbritannien Was die neue britische Regierung wirtschaftlich leisten muss

Das Vereinigte Königreich wählt ein neues Parlament. Premierminister Rishi Sunak und seiner Konservativen Partei droht eine historische Niederlage. Labour-Chef Keir Starmer könnte damit gewinnen – und zeitgleich vielen wirtschaftlichen Problemen des Landes gegenüberstehen.

Keir Starmer - Figure 1
Foto manager-magazin.de

04.07.2024, 15.26 Uhr

Wird als neuer Premier erwartet: Keir Starmer mit Ehefrau Victoria

Foto: Leon Neal / Getty Images

Seit 14 Jahren regieren in Großbritannien die Konservativen. Genauso lange wartet die Labourpartei auf eine Gelegenheit, wieder an die Macht zu kommen. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass es noch in dieser Woche so weit sein wird. Heute wählen die Briten ein neues Parlament.

Doch die Aufgaben, die Labour-Chef Keir Starmer (61) und sein künftiges Kabinett erwarten, sind enorm. Dass der Wunsch nach Wandel bald Frustration über zu langsame Fortschritte weichen könnte, sei leicht zu erkennen, sagt Politikprofessor Anand Menon (58) vom King's College in London der Deutschen Presse-Agentur: „Labour sieht sich massiven Herausforderungen gegenüber.“ Darunter hat das Land vor allem mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen.

Das fehlende Wirtschaftswunder

Entscheidend für den Erfolg der nächsten Regierung dürfte sein, ob es ihr gelingt, das Wirtschaftswachstum wieder in Gang zu bringen. Doch nach Ansicht von Experten der Denkfabrik UK in a Changing Europe hat die Labourpartei mit ihren zurückhaltenden Plänen für eine Annäherung zur Europäischen Union den wichtigsten Hebel für Wachstum bereits aus der Hand gegeben. Eine Rückkehr in Binnenmarkt und Zollunion zu seinen Lebzeiten schloss der 61-jährige Labour-Chef Starmer im Wahlkampf aus.

In Großbritannien hat die Wirtschaft wie in vielen anderen wohlhabenden Ländern in den meisten Jahren nach der Finanzkrise 2008/2009 nur schleppend zugelegt. Das Wachstum seit 2010 – als die Konservativen an die Macht kamen – war zwar stärker als in Deutschland, Frankreich oder Italien. Aber der Vorsprung ist gering. Der Lebensstandard wird voraussichtlich während der kommenden Legislaturperiode erstmals seit den Fünfzigerjahren sinken.

Premier Rishi Sunak (44) argumentiert, die Wirtschaft erhole sich nach der Coronakrise und dem Anstieg der Energiepreise. Starmer wiederum kündigt an, unter Labour werde Großbritannien das stärkste nachhaltige Wachstum unter den G7-Staaten erzielen. Seit der Pandemie ist die Wirtschaft allerdings die zweitschwächste der führenden Industriestaaten. „Auch wenn die Arbeitslosigkeit niedrig ist, hat die hohe Inflation die Wähler schwer belastet“, sagt Commerzbank-Analyst Christoph Balz.

Produktivität unterdurchschnittlich

Das Wirtschaftswachstum beschleunigen für mehr Geld in der Staatskasse und mehr Geld im Portemonnaie der Menschen – das ist eine der wichtigsten Herausforderungen für die nächste Regierung. Dafür muss sich die schwache Produktivität verbessern.

London und Südostengland sind die einzigen Regionen in Großbritannien, in denen der Ausstoß pro Stunde über dem nationalen Durchschnitt liegt. Nötig wären auch mehr Investitionen des Privatsektors. Aber die Unternehmen sind seit dem Brexit-Referendum 2016, das jahrelange Instabilität auslöste, bei Investitionen zurückhaltend.

Armutsprobleme

Die Armut geht in Großbritannien weiter zurück, aber das Tempo hat sich seit 2010 verlangsamt. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung hat. Diese sogenannte absolute Armut sank in den 13 Jahren bis zum Haushaltsjahr 2009/10 fünfmal schneller als seitdem, wie das Institute for Fiscal Studies (IFS) ermittelt hat.

Auch andere Indikatoren zeigen die Folgen der Inflation. Im Jahr 2019/20 konnten vier Prozent der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter ihr Zuhause nicht ausreichend heizen. Drei Jahre später lag dieser Anteil laut IFS bei elf Prozent.

Die große Wohnungsnot

In Großbritannien gibt es viel zu wenig Wohnraum. Der Denkfabrik Institute of Economic Affairs zufolge müssten allein im größten Landesteil England 3,4 Millionen Wohneinheiten geschaffen werden, um den EU-Durchschnittswert im Verhältnis zur Bevölkerung zu erreichen.

Als einer der Hauptgründe für die Knappheit gilt ein kompliziertes und restriktives Planungsrecht, das Anwohner, die sich gegen den Bau neuer Wohnimmobilien wehren, bevorzugt. Zudem ist gerade im Umkreis größerer Städte viel potenzielles Bauland als „green belt“ (grüner Gürtel) geschützt.

Das Planungsrecht zu reformieren, gilt als eine der ersten Maßnahmen, die Labour angehen will. Doch bis das eine spürbare Erleichterung bringen wird, dürften Jahre vergehen.

Der am Boden liegende Gesundheitsdienst

Der National Health Service (NHS) gilt als eine der größten Errungenschaften des britischen Sozialstaats. Doch der NHS, der allen dauerhaft in Großbritannien lebenden Menschen kostenlos zur Verfügung steht, ist chronisch unterfinanziert.

Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge lagen die Ausgaben im Gesundheitsbereich im Vereinigten Königreich 2022 bei etwa 5500 US-Dollar pro Kopf. Zum Vergleich: In Deutschland wurden 2022 pro Einwohner 8050 US-Dollar ausgegeben. Die Warteliste für medizinische Eingriffe erreichte im vergangenen Jahr einen Rekord mit beinahe 7,8 Millionen Patienten.

Wie Labour mehr Geld in den Gesundheitsbereich stecken will, bleibt unklar, denn die Kassen sind leer, wie auch Starmer stets betont. Auch hier dürfte es Jahre dauern, bis spürbare Verbesserungen eintreten.

Streit um hohe Zahl der Einwanderer

Eines der Hauptargumente für den EU-Austritt Großbritanniens war, die Kontrolle über die eigenen Grenzen wiederzuerlangen. Doch der Einwanderungsüberschuss kletterte im vergangenen Jahr auf eine Rekordzahl von 685.000 Menschen.

Trotz Fachkräftemangel in vielen Branchen, nicht zuletzt im Gesundheitsbereich, wird das Thema Einwanderung immer wieder zum Politikum. Brexit-Vorkämpfer und Rechtspopulist Nigel Farage (60) behauptet, die Einwanderung sei für Probleme wie die Wohnungsnot und die langen Wartelisten im Gesundheitsdienst verantwortlich – und trifft bei vielen Menschen einen Nerv.

Zur regulären Einwanderung kommen Zehntausende irreguläre Migranten, die in kleinen Booten jedes Jahr den Ärmelkanal in Richtung England überqueren. Trotz großer Anstrengungen konnte die konservative Regierung von Premierminister Sunak, der mit dem Slogan „Stop the Boats“ geworben hatte, hier kaum Erfolge vorweisen.

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten
Die beliebtesten Nachrichten der Woche