Die Richter des Internationalen Strafgerichtshofs haben wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu erlassen. Haftbefehle wurden ebenfalls gegen den Anführer der radikal-islamischen Hamas, Mohammed al-Masri (besser bekannt als Mohammed Deif), und den früheren israelischen Verteidigungsminister Joaw Gallant erlassen, wie das Gericht am Donnerstag mitteilte.
Das Gericht sieht ausreichende Gründe für die Annahme, dass die beiden Spitzenpolitiker „absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben einschließlich Nahrung, Wasser sowie Medikamente und medizinische Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten haben“. Israel hatte Beschwerde gegen die Beantragung der Haftbefehle eingereicht. Diese wiesen die Richter zurück.
Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, hatte am 20. Mai die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant wegen der Kriegsführung im Gazastreifen und gegen mehrere Hamas-Anführer wegen des Überfalls der palästinensischen Extremistengruppe auf Israel beantragt.
Israel hatte erklärt, Deif bei einem Luftangriff getötet zu haben, die Hamas hat dies weder bestätigt noch dementiert. Er wäre der letzte noch lebende Hamas-Vertreter, für den Khan einen Haftbefehl beantragte. Yahya Sinwar, Hamas-Führer im Gazastreifen, und der politische Chef der Hamas, Ismail Haniyeh, wurden in den vergangenen Monaten von Israel getötet. Nach der Bestätigung ihres Todes wurden die Haftbefehle zurückgenommen. Bei Deif wollte die Anklage nach Angaben des Gerichts noch bis zur endgültigen Bestätigung des Todes warten.
„Zeichen der Schande“: Erste Reaktionen auf die Entscheidung des IStGHDas Büro des israelischen Premiers bezeichnete das Urteil des IStGH als „antisemitisch“. Israel weise die „absurden und falschen Lügen kategorisch“ zurück, hieß es in einer ersten Reaktion. Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid nannte die Entscheidung des Gerichts in Den Haag als „Belohnung für Terrorismus“. Israels Präsident Isaac Herzog ortete ein „empörendes“ Urteil. Der IStGH habe „die universelle Justiz in eine universelle Lachnummer“ verwandelt. Die „Seite des Terrors und des Bösen“ sei „über Demokratie und Freiheit“ gestellt worden. Der ehemalige israelische Premierminister, Naftali Bennett, sprach wiederum von einem „Zeichen der Schande“ für den Gerichtshof, schrieb er auf der Plattform „X“.
Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der einer kleinen ultranationalistischen Partei in Netanjahus Koalition vorsteht, sagte, Israel solle mit der Annexion des besetzten Westjordanlands reagieren, wo die Palästinenser einen unabhängigen Staat errichten wollen. „Die Antwort auf die Haftbefehle – die Anwendung der Souveränität über alle Gebiete von Judäa und Samaria, die Ansiedlung in allen Teilen des Landes und der Abbruch der Beziehungen mit der terroristischen (palästinensischen) Behörde“, sagte er.
Einige EU-Staaten würden Haftbefehl ausführenDie Hamas begrüßte die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant und erklärte, dies sei ein wichtiger historischer Präzedenzfall und „eine Korrektur eines langen Weges historischer Ungerechtigkeit gegen unser Volk“. Die Hamas rief alle Länder der Welt auch dazu auf, die Haftbefehle auch zu vollstrecken. Zum Haftbefehl gegen ihren eigenen mutmaßlich toten Militärchef, Deif, gab es keinen Kommentar.
Die Niederlande seien indes bereit, auf den vom IStGH ausgestellten Haftbefehl gegen Netanjahu zu reagieren, wie die niederländische Nachrichtenagentur ANP am Donnerstag unter Berufung auf den Außenminister des Landes, Caspar Veldkamp, berichtete. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich ähnlich. Entscheidungen des IStGH seien „nicht politisch“, Gerichtsentscheidungen seien zu respektieren und umzusetzen. Ähnlich hatte sich auch der irische Premierminister Simon Harris am Donnerstag geäußert: Jeder, der in der Lage sei, den IStGH bei der Durchführung seiner „lebenswichtigen“ Arbeit zu unterstützen, müsse dies nun „mit Dringlichkeit“ tun.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Reuters / Yves Herman
Gegen Chefankläger Khan läuft eine UntersuchungDer Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ermittelte seinerseits wegen mutmaßlichen sexuellen Fehlverhaltens gegen seinen Chefankläger Karim Khan. Das Leitungsgremium des Gerichts in Den Haag werde eine externe Untersuchung einleiten, hieß es am Montag in einer Erklärung. Damit bestätigte das Gericht eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters vom Freitag. Khan kündigte in einer eigenen Erklärung an, seine zentralen Aufgaben weiter wahrnehmen zu wollen.
Vorgänge mit Bezug auf die Anklage würden von Vizechefanklägern übernommen. Khan hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Diese waren im vergangenen Monat aufgekommen.
Der IStGH ist unter anderem für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig. Im Jahr 2023 hatte er einen internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen, der jedoch bisher nicht vollstreckt wurde. Selbst bei Putins Besuch in der Mongolei, ein Land, das das Römische Statut des IStGH eigentlich ratifiziert hat, blieb eine Verhaftung aus. 139 Staaten weltweit haben diese Römische Statut – die vertragliche Grundlage des IStGH – unterzeichnet, 124 davon haben es ratifiziert, auch Österreich. Israel gehört neben den USA, Russland und China zu den Staaten, die das Gericht nicht anerkennen. Aber die palästinensischen Gebiete sind Vertragsstaat. Daher darf der IStGH-Ankläger auch ermitteln.
Der IStGH hat keine eigene Polizei, um seine Haftbefehle durchzusetzen, und ist deshalb auf die Kooperation der Mitgliedstaaten angewiesen. Sie sind theoretisch verpflichtet, die Gesuchten festzunehmen, sobald sie sich in ihrem Staatsgebiet aufhalten. Dies könnte Reisen von Netanjahu und Gallant etwa in die EU erschweren. Israels wichtigster Verbündeter, die USA, sind jedoch kein Mitglied des IStGH, müssen die Haftbefehle also nicht vollstrecken. (APA/Red.)