Internationaler Strafgerichtshof: Chefankläger Karim Khan hat zu ...
Meinung Die Regierung von Olaf Scholz hat die Wahl: Steht sie weiter felsenfest hinter der Regierung Benjamin Netanjahu oder hinter dem Haager Strafgerichtshof. Zur Debatte steht die „regelbasierte internationale Ordnung“
Gegen Benjamin Netanjahu könnte bald Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof ergehen
Foto: Oren Ben Hakoon/AFP via Getty Images
Den teils rüden, wenig fundierten Reaktionen auf die Entscheidung des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) liegt ein Trugschluss zugrunde. Der ist zu offensichtlich, als dass er den Anklägern des Anklägers Karim Khan zufällig unterlaufen sein könnte. Benjamin Netanjahu und sein Verteidigungsminister Joaw Galant werden nicht, wie behauptet oder unterstellt, mit den drei Hamas-Führern gleichgesetzt, gegen die ebenfalls Haftbefehl beantragt ist.
Vielmehr wird das Verhalten der beiden israelischen Politiker verglichen mit den Normen einer internationalen Rechtsordnung, zu deren Schutz der Internationaler Strafgerichtshof 1998 gegründet wurde und inzwischen von 123 Vertragsstaaten getragen wird. Ergibt dieser Vergleich eklatante Verstöße gegen die Standards dieses ICC, muss gehandelt werden. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass die Netanjahu-Regierung Hunger als Waffe gegen die Palästinenser einsetzt, internationale Hilfslieferungen unterbindet und zulässt, dass Konvois von Siedlern angegriffen und Hilfsgüter zerstört werden. Es ist seit mehr als sieben Monaten eine Tatsache, dass in Gaza Ziele angriffen werden, bei denen von vornherein außer Frage steht, dass Zivilisten zu Schaden kommen. Den Abwurf von 900-Kilo-Bomben auf Wohngebäude hat bereits Ende Januar der Internationale Gerichtshof (IGH), der das Verhalten von Staaten zu beurteilen hat, klar missbilligt. Vom Beschuss von Flüchtlingstrecks, der gezielten Tötung internationaler Helfer und dem Sturm auf Krankenhäuser durch die israelische Armee ganz zu schweigen. Sind das Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Es ist dem Chefankläger des Strafgerichtshofs auferlegt, dem nachzugehen und dies gegebenenfalls zu ahnden. Khan ist eher vorzuwerfen, zu spät gehandelt zu haben – angesichts des menschlichen Leids in Gaza, das fassungslos macht, wie es unerträglich ist, dass eine ganze Welt zuschaut, angesichts der unter entsetzlichen Umständen getöteten Frauen und Kinder, die niemanden mehr auf die Idee kommen lassen sollte, Israel führe einen „gerechten Krieg“.
Internationale Gerichte schaffen PräzedenzfälleIn der Vergangenheit haben ICC-Prokuratoren jede Menge afrikanische Warlords vor die Schranken ihres Gerichts zitiert und verurteilt. Die politisch und militärisch Verantwortlichen für die zivilen Opfer des US-Angriffskriegs auf den Irak oder von 20 Jahren Besatzung in Afghanistan waren nicht darunter. Versuche der Khan-Vorgängerin, der gambischen Juristin Fatou Bensouda, dies zu ändern, hatten sich schnell erledigt.
Aber das Blatt wendet sich. Sowohl der Internationale Gerichtshof wie der Internationale Strafgerichtshof sorgen für Präzedenzfälle, die so nicht absehbar waren, als Israel seinen Krieg in Gaza begann. Der Aufschrei in Washington, London und Berlin lässt wissen, dies wird sehr wohl verstanden. Die Netanjahu-Unterstützer geraten in Bedrängnis – sie sind womöglich der Beihilfe schuldig und moralisch enorm diskreditiert – sollten ICC-Präsident Piotr Hofmanski (Polen) und Vizepräsidentin Luz de Carmen Ibañez (Peru) den Anträgen von Khan stattgeben.
Die Regierung Scholz kann sich nun entscheiden, ob sie „felsenfest“ hinter der Regierung Netanjahu oder hinter dem Haager Strafgerichtshof steht. Es geht immerhin um eine „regelbasierte internationale Ordnung“, der sich die deutsche Außenpolitik doch so vehement verschrieben hat. Wer mit großer Genugtuung quittiert, dass der russische Präsident vom ICC-Chefankläger wegen der Deportation ukrainischer Kinder angeklagt wird, kann es schlecht verurteilen, dass die Tötung von Palästinensern, unter ihnen auch viele Kinder, die Tag für Tag vor aller Augen stattfindet, nicht geahndet wird.
Der Westen braucht keine Gegner mehr, die das für ihn übernehmen – er überführt sich selbst der Heuchelei, der doppelten Standards und der Verstrickung in Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Übrigen, um das noch einmal zu unterstreichen, drohen auch drei Führern der Hamas Haftbefehle des ICC wegen der am 7. Oktober 2023 zu verantwortenden Verbrechen auf israelischem Gebiet.
Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“
Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.
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