Die Stadt der Underdogs: Kamala Harris' Wurzeln in Oakland

2 Stunden vor
Kamala Harris

Die Bay Bridge verbindet San Francisco und Oakland. In der Mitte liegen Yerba Buena Island und die künstliche Insel Treasure Island, ehemaliger Standort der US-Navy. Wenn man über die Bay Bridge Richtung Westen fährt, sieht man die San Francisco Bay, Alcatraz, Angel Island, das Golden Gate und dann liegt beeindruckend Downtown San Francisco vor einem.

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Wenn man dagegen Richtung Osten fährt, sieht man von all dem relativ wenig. Nach dem Tunnel auf Yerba Buena Island kommen rechts die gewaltigen Kräne des Hafens von Oakland in Sicht, gleich dahinter empfangen einen bei offenem Fenster die herben Gerüche der lokalen Kläranlage. Ein Kontrast, wie er deutlicher nicht sein könnte. Welcome to Oakland.

Voll kreativer Energie

Seit nunmehr 28 Jahren lebe ich in dieser Stadt, meiner Wahlheimat, die voller Probleme, aber dennoch eine sehr beeindruckende, reiche, geschichtsträchtige und lebendige Stadt voller kreativer Energie ist. Oakland konnte dennoch nie aus dem Schatten der nahegelegenen Weltmetropole San Francisco treten. In den überregionalen Nachrichten wurde nur von politischen Skandalen, Ausschreitungen, hohen Mordraten in Oakland berichtet. In San-Francisco-Reiseführern werden Tourist:innen immer noch vor einem Besuch in Oakland gewarnt. Als in den letzten Jahren die drei Sport-Teams in der Stadt – die Golden State Warriors (NBA), die Raiders (NFL) und die A’s (MLB) – ankündigten, Oakland den Rücken zu kehren, war das für viele keine Überraschung. Die Warriors zog es nach San Francisco, die Raiders nach Las Vegas, und die A’s werden auch nach „Sin City“, also Las Vegas, umziehen. Oakland konnte die finanziellen Versprechungen und Angebote der anderen Kommunen von Weltrang nicht kontern.

Und dann kam Kamala. „Oakland, sind wir nicht stolz darauf, dass wir Kamala Harris’ Heimatstadt sind? Sie hat Oaklands progressive Werte verinnerlicht und eine Vision der Inklusion“, führte im Jänner 2019 Bürgermeisterin Libby Schaaf ihre alte Freundin vor dem Rathaus der Stadt ein. 20.000 begeisterte Unterstützer:innen waren gekommen, um die Ankündigung der damaligen kalifornischen Junior-Senatorin Kamala Harris zu hören: „Ich kandidiere für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten.“

Tochter zweier Immigrant:innen

Am 20. Oktober 1964 wurde sie im Oakland Kaiser Permanente Hospital an der Howe Street als Tochter zweier Immigrant:innen geboren. Ihre Mutter, Shyamala Gopalan, aus Indien, ihr Vater, Donald Harris, aus Jamaica, studierten beide zu der Zeit an der UC Berkeley. Berkeley liegt gleich neben Oakland, der Übergang ist fließend, man merkt nur an den Straßenschildern, dass der „Oak Tree“, der Eichenbaum, auf einmal darauf fehlt.

Als Kamala Harris 1964 zur Welt kam, griff in Berkeley die „Free Speech“-Bewegung um sich. Ein Jahr später begannen auf dem Campus der Universität die Anti-Vietnam-Proteste, die bis in die 1970er-Jahre andauern sollten. 1966 gründete sich in West-Oakland die „Black Panther Party for Self-Defence“, eine radikale Gruppe von afro-amerikanischen Studierenden, die auf den regionalen Universitätsgeländen in der San Francisco Bay Area schnell auf breite Unterstützung stießen. Das alles vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Gesellschaft.

Während des Zweiten Weltkriegs zogen Zehntausende Afro-Amerikaner:innen mit ihren Familien aus den amerikanischen Südstaaten nach Oakland und in die umliegenden Städte, um in der boomenden Kriegsindustrie an der amerikanischen Westküste Arbeit zu finden. Die San Francisco Bay Area war in jenen Jahren ein wichtiger Standort der US-Navy. Diese sogenannte „Second Great Migration“ veränderte die einst weißen Städte in der Bay Area grundlegend. Die meisten der Kommunen, darunter auch Oakland, wurden von weißen, republikanischen Bürgermeistern regiert, wie eigentlich überall im Land. Heute nicht mehr vorstellbar. 1968 waren von 500.000 gewählten Offiziellen in den USA gerade mal 50 Afro-Amerikaner.

Und in dieser Zeit des Wandels mit seiner eigenen Dynamik und einem ungebremsten Aktionismus im ganzen Land wuchs Kamala Harris auf. Anfangs wohnte sie mit ihren Eltern nur einen Block vom Campus entfernt. 1966 zog die mittlerweile vierköpfige Familie aufgrund von Jobangeboten in den Mittleren Westen, nach Illinois und Wisconsin. Doch die Ehe der Eltern hielt nicht, die Mutter kehrte Ende der 60er-Jahre mit den beiden Töchtern zurück nach Berkeley, zog dort in ein Apartment am Bancroft Way.

Mutter Shyamala Gopalan, die nie ihre indischen Wurzeln verhehlte, tauchte Anfang der 1970er-Jahre in die stark politisierte afro-amerikanische Community von Berkeley und Oakland ein. Wöchentlich nahm sie mit Kamala und Maya an Treffen im „Rainbow Sign“ teil, einem schwarzen Kulturzentrum an der Grove Street, heute Martin-Luther-King-Jr.-Way. Dort ging es um schwarze Kultur, Politik, Kunst. Kamala Harris erinnerte sich einmal an diese frühen Jahre: „Meine Eltern marschierten und protestierten während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Dank ihnen und all jenen, die auf die Straße gingen, um für Gerechtigkeit zu kämpfen, bin ich die geworden, die ich heute bin.”

In ihrer Umgebung lebten aktive Black-Panther-Mitglieder, sie sah deren Gründer und Anführer, Huey P. Newton, öfter, bekam mit, dass die Gruppe Frühstück für Kinder in den lokalen Schulen verteilte, Senior:innen half, gezielt die Konfrontation mit dem weißen Amerika suchte. Das alles zu einer Zeit, als die USA am Ende des sogenannten „Red Lining“ standen: eine jahrzehntelange Politik, die vor allem Afro-Amerikaner:innen daran hinderte, in weiße Gegenden ziehen zu können. Der Wohnraum der schwarzen Bevölkerung wurde auf bestimmte Stadtteile begrenzt, die kaum gefördert wurden, die stark belastet, in denen problemlos Fabriken angesiedelt, durch die Autobahnen gezogen worden waren.

Die junge Kamala Harris lernte in diesen Jahren aber auch, was die Förderung von Afro-Amerikaner:innen, gerade durch mittelständische afro-amerikanische Frauen, die sich hochgearbeitet hatten, bedeutete. Wie sie, wie auch ihre Mutter, mittlerweile eine erfolgreiche biomedizinische Forscherin am Lawrence Berkeley National Laboratory, Grenzen in der Arbeitswelt niederrissen und dabei Vorbild für eine neue Generation junger, schwarzer Frauen wurden. Es ging um eine Umwandlung der amerikanischen Gesellschaft, in denen die rassistischen Wurzeln und ihre Folgen noch deutlich spürbar waren. In diesen hitzigen, aufgeregten, doch zukunftsweisenden Jahren wuchs Kamala Harris auf. Und sie war hier in Oakland und Berkeley genau an der richtigen Stelle. Der Einfluss der alten, weißen Männer in der Lokalpolitik, an den regionalen Universitäten, in der Stadtverwaltung sank immer mehr. Sie wurde nicht nur Zeitzeugin in einem Amerika im Umbruch in jenen Tagen, sie steckte mittendrin, wurde tief beeinflusst von dem, was sie mit ansah und selbst erlebte.

Als sie 2019 um die Nominierung der Demokraten kandidierte, kam es in einer Fernsehdebatte zu einem Schlagabtausch ausgerechnet mit Joe Biden. Harris griff Biden an, warf ihm vor, seinerzeit im Senat mit Kolleg:innen zusammengearbeitet zu haben, die sich für eine Trennung der Rassen in den USA einsetzten. Und sie sprach davon, wie ein kleines Mädchen im kalifornischen Berkeley mit Bussen in die zweite integrierte Klasse einer öffentlichen Schule gebracht wurde: „That little girl was me.“

Mitgefühl und Kampfgeist

Die ehemalige Bürgermeisterin von Oakland, Libby Schaaf, kennt Kamala Harris seit Mitte der 1990er-Jahre. „Ich arbeitete damals im Schuldistrikt von Oakland. Und sie rief mich als Vertreterin des Museum of Modern Art in San Francisco an.“ Harris fragte an, ob man eine Partnerschaft zwischen dem MOMA und einer Mittelschule in Oakland eingehen könne, und das in West-Oakland, einem schwer benachteiligten, vor allem afro-amerikanischen Stadtteil. Kamala Harris, so Schaaf, wollte den Kindern nicht nur den Zugang zum Museum ermöglichen, sondern ihnen auch aufzeigen, welche Karrieremöglichkeiten in der Kunstszene möglich seien. Für Libby Schaaf, die noch immer sehr eng mit der heutigen Präsidentschaftskandidatin der Demokraten befreundet ist, ist klar, dass gerade ihr Aufwachsen in Berkeley und Oakland sie geprägt hat: „Sie hat dieses leidenschaftliche Mitgefühl. Sie sorgt sich wirklich um Menschen. Kamala verbindet das mit diesem absoluten Kampfgeist.“

Als jemand, der nun schon die Hälfte seines Lebens in Oakland lebt, kann ich verstehen, dass man diese Stadt hasst oder liebt. Sie ist nicht die Glitzermetropole, sie hat nicht die weltbekannten Kunsteinrichtungen, nicht den großen Namen, zieht nicht alljährlich Millionen von Tourist:innen an wie „The City“ auf der anderen Seite der Bay Bridge. Doch Oakland hat „Soul“, ist voller Geschichte und Geschichten, hat dieses Underdog-Image. Das Leben hier prägt einen. Bei allen Problemen, die es durchaus gibt, Oakland ist Heimat. Von daher kann ich verstehen, warum Kamala Harris im Wahlkampf gegen Donald Trump genau diese Wurzeln betont.

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Infos und Quellen

Genese

Autor Arndt Peltner lebte ein paar Jahre in San Francisco, bevor er Ende der 90er-Jahre nach Oakland zog und sich in die Stadt verliebte. Musik, Kunst, Kultur, es ist ein vibrierendes Leben in „The Town“, wie Oakland auch genannt wird. Die Kandidatur von Kamala Harris wurde hier wohlwollend aufgenommen, es würde der Stadt sicherlich guttun. Wer am Ruf von Oakland zweifelt, sollte vielleicht auf die Toten hören, denn viele der Gründungsväter von San Francisco ließen sich auf dem Mountain Cemetery in Oakland begraben. Von hier ist der Blick aufs Golden Gate einfach schöner.

Daten und Fakten

Am 5. November wählen die US-Amerikaner:innen einen neuen Präsidenten/eine neue Präsidentin. Es war allerdings schon in den Wochen davor möglich, zu den Urnen zu schreiten. Die Umfragen deuteten zuletzt auf ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Demokratin Kamala Harris und dem Republikaner Donald Trump hin. Entschieden wird die Wahl in den sogenannten Swing States, die traditionell über Sieg und Niederlage entscheiden.

Oakland zählt rund 440.000 Einwohner und ist damit die drittgrößte Stadt der Metropolregion San Francisco Bay Area. Die Stadt wurde 1852 gegründet und ist bis heute stark industriell geprägt. Oakland grenzt im Norden an die für ihre Uni berühmte Stadt Berkeley, unmittelbar gegenüber in westlicher Richtung befindet sich San Francisco. Bürgermeisterin ist die Demokratin und Harris-Vertraute Libby Schaaf.

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