Live im Gasometer - Kaleo: Rock'n'Roll- und Blues-Kultur in Perfektion
In Island ticken die Uhren anders – und zwar in jeder Hinsicht. Wenn auf der knapp 400.000 Einwohner fassenden Insel im hohen globalen Norden ein Vulkan Asche spuckt, dann ist der Flugverkehr am Festland schnell eingeschränkt. Wenn sich das Fußballnationalteam für eine Europameisterschaft qualifiziert, reist ihr fast das ganze Land nach (so geschehen 2016 in Frankreich) und wenn jemand wie Björk mit unfassbar schrägen Tönen zu einem Weltstar aufsteigt, wird das mit einem nonchalanten Achselzucken abgetan. Von dieser Schrägheit hat sich Jökull „JJ“ Júlíusson eine gehörige Portion abgeschnitten. Mit vier alten Kumpels gründete er vor zwölf Jahren seine Rockband Kaleo (hawaiianisch für „Tanz“) und zog nach der Unterschrift beim Majorlabel Atlantic Records schon nach wenigen Jahren in die USA – ins gelobte Land der Musik. Ein Jahr darauf feierte das Quintett im Vorprogramm der Rolling Stones im steirischen Spielberg sein Österreich-Debüt.
Unwirkliche Erfahrung in der SteiermarkDaran erinnert sich Jökull im „Krone“-Interview vor der Show noch sehr gut. „Das war dort bei den vielen Bergen. Eine unwirkliche Erfahrung. Ich meine, sie sind seit 63 Jahren eine Rockband und damit wohl sicher im ,Guinness Buch der Rekorde‘. Für uns war das als Band super, denn so einige Stones-Fans haben wir überzeugt und sie sind uns weiter gefolgt. Es war einfach eine ganz andere Publikumsschicht, als wir sie normal haben.“ Kaleo ist eine Band, die nicht den einen großen Hit hat, mit der Mischung aus altertümlichem Blues, viel Rock’n’Roll und einem zeitgeistigen Gesamtpaket aber gleichermaßen in offeneren Radiostationen, Streaming-Produktionen, Computerspielen oder Werbungen vorkommt. Der Auftritt am Sonntagabend im Wiener Gasometer ist der bereits dritte an dieser Stelle und sollte zum musikalischen Triumphzug ausarten. Von den ersten Tönen an hat man die ca. 3200 Besucher für sich vereint und lässt sie gut 85 Minuten lang nicht mehr los.
Das Outfit Júlíussons erinnert an eine Mischung aus 70er-Jahre-Neil Young und Stevie Ray Vaughan. Seine vier Mitstreiter eröffnen den Abend mit einer Art Jam-Intro, während sechs wuchtige Lichtpfeiler für eine so perfekt ausgeleuchtete Show sorgen, wie man sie nur selten zu Gesicht bekommt. Júlíusson ist nicht nur mit einer begnadeten Stimme gesegnet und reüssiert als kundiger Komponist und Arrangeur, er ist auch ein unverbesserlicher Perfektionist, was natürlich nicht vollständig positiv zu bewerten ist. „Songs zu schreiben, ist für mich wie eine Obsession. Ich kenne niemanden, der länger daran sitzt und schraubt. Ich meine – von uns kommen alle drei bis fünf Jahre mal Alben raus. Das sagt ja wohl alles. Gerade in der Kunst ist es wichtig, die Extrameile zu gehen. Es gibt genug Durchschnitt da draußen. Es ist nicht mein Anspruch, auch Durchschnitt zu produzieren.“
Mehr als nur eine ShowJúlíussons ausuferndes Selbstbewusstsein wird mitunter als offen zur Schau gestellte Arroganz missverstanden. Möglicherweise ist das auch richtig, doch der umtriebige Geist des musikalischen Kreators sorgt auch dafür, ein Konzertabend wie der heutige immer ein bisschen mehr ist, als nur eine Show. Vom angesprochenen Licht über die Kleidung, die Posen, die Setlist bis hin zum Sound stimmt hier alles. Bei Songs wie dem bluesigen „Break My Baby“ oder dem als Gospel-Stück eröffneten „Broken Bones“ wähnt man sich direkt in den 70er-Jahren, so herrlich rau, knarzig und trotzdem druckvoll wabert der Sound durch das Veranstaltungsoval, das für gewöhnlich eher harscher Kritik ausgesetzt ist. Kaleo spielen wie selbstverständlich Delta-Blues der alten Schule und vermischen ihn mit der Rotzigkeit der Stones, den zarten Momenten eines Nick Drake und einem Rockstar-Gestus, wie ihn die Großen ihrer Zunft in fast magischer Art und Weise auszustrahlen wissen.
Zwischen den live gespielten Songs „Hey Gringo“, „Vor i Vaglaskogi“ und dem Band-Hit „Way Down To Go“ liegen musikalisch Welten, aber trotzdem klingt alles wie aus einem Guss. „Ich würde mich in der Musik als furchtlos bezeichnen und mache das, was ich für richtig halte“, erläutert Júlíusson im Gespräch, „ich höre sehr viel verschiedene Musik und sehe kein Limit. Die kreative Kontrolle jederzeit zu behalten, das war uns auch beim Unterzeichnen des Plattenvertrags ein Anliegen. „Ich liebe den Blues noch immer wie am ersten Tag, aber ich höre auch viel anderes. Es ist durchaus möglich, dass es bald auch den ersten Kaleo-Reggae-Song gibt oder wir mit anderen Instrumenten experimentieren.“ Auf der Bühne ist vor allem die Mundharmonika ein beliebtes Behelfsmittel. Das Piano, auf dem Júlíusson einst klassisch ausgebildet wurde, ist das einzige, das für eine nahezu perfekte Show fehlt. „Ich hoffe immer, dass das Publikum mit unseren Veränderungen mitgeht. Ich bin auch überzeugt davon, dass wir eine sehr gute Show aufs Parkett bringen.“
Viertes Studioalbum nahtBei Kaleo-Songs ist kein Gramm zu viel. Wenn die Lieder in Jam-Sessions ausufern, hat das im Chaos Hand und Fuß. Wenn man schnell über der Ziellinie rauscht, fehlt es auch an nichts. Wird es einmal länger, langweilt man sich nicht. „Ich weiß, dass die Menschen heute auf unzählige Arten Musik konsumieren, aber für mich zählt immer noch dieser romantische Gedanke der 1930er- und 1940er-Jahre: Man arbeitet lang an einem guten Song, presst ihn auf Vinyl, veröffentlicht ihn und er bleibt für immer auf dieser Welt.“ Im aktuellen Liveprogramm geben Kaleo auch schon einen Vorgeschmack auf das heiß ersehnte vierte Studioalbum, das man für Frühling 2025 avisiert. Mit „USA Today“ eröffnet man sogar das Liveset mit einer brandneuen Nummer – Mut kann man nicht kaufen. „Der Song dreht sich vor allem darum, dass die USA für einen Isländer wie mich oft einfach surreal ist. Ich bin seit fast zehn Jahren in Nashville, aber verstehe das Land nicht.“ „Skinny“ geht kritisch mit dem Schönheitswahn der Gegenwart um, in „Lonely Cowboys“ inszeniert sich Júlíusson selbst als eine Art Spaghetti-Western-Held – das Resultat unterschiedlicher Tagträume.
„Das ist die Magie des Songwritings. Bei manchen Songs bin ich selbst durch schwierige Phasen gegangen, andere wiederum entstehen schlichtweg aus einer Beobachtung. Songs entstehen aus extrem vielen verschiedenen Bereichen meines Lebens, aber einen sehr großen Anteil daran nimmt das Dahinfantasieren und Tagträumen ein.“ Das Tourmotto „Payback“ (also: Zahltag) wird angesichts dieses fulminanten Auftritts auch als korrekte Bezeichnung exerziert. Kaleo sind nach mehr als einer Dekade ihres Bestehens noch immer eine der frischesten, stärksten und ideenreichsten Bands aus dem klassischen Segment der Blues-lastigen Stromgitarrenmusik. Sie nehmen das Zepter des Rock’n’Roll der Altvorderen, schmieden es genüsslich weiter und werden irgendwann bereit sein für die weitere Staffelübergabe. Bis dahin muss man das Dargebotene aber schlichtweg genießen. So viel Talent fällt nicht so oft vom Kreativen-Himmel. Angesichts dieser Gala-Vorstellung wirkt Júlíussons Analyse vor dem Konzert fast wie eine Drohung. „Wir fühlen uns live noch immer nicht ganz wohl. Aber das gehört dazu und wir arbeiten weiter daran, besser zu werden.“