Jüdische Gemeinde feiert Jom Kippur in schwierigen Zeiten

4 Stunden vor
Jom Kippur

DOMRADIO.DE: Jom Kippur - was ist das eigentlich? 

Abraham Lehrer (Vorstand Synagogen-Gemeinde Köln): Jom Kippur ist der Abschluss der sogenannten Hohen Feiertage, die vor wenigen Tagen mit dem Neujahresfest Rosch ha-Schana begonnen haben. Gemäß der jüdischen Religion sind das die Tage, an denen der Mensch vor Gott tritt und über alles Rechnungen ablegen muss. Zwischen Beginn des Neujahrsfest und Jom Kippur liegen zehn Tage. Das sind die Tage der Reue und Umkehr, die auch Jemej Teschuwa genannt werden. 

An diesen Tagen erhält der Mensch die letzte Chance, seine Sünden zu bereuen und Besserung zu geloben, deswegen wird der Tag auch Versöhnungstag genannt. Am Jom Kippur wird verkündet, ob derjenige ins Buch des Lebens oder, zum Beispiel, in das Buch des Todes eingetragen wird. Das sind die Feiertage mit der höchsten Bedeutung für das Judentum.

Abraham Lehrer

"Das Allerwichtigste ist die Versöhnung zwischen Mensch und Gott." 

DOMRADIO.DE: Wer versöhnt sich da mit wem? 

Lehrer: Das Allerwichtigste ist die Versöhnung zwischen Mensch und Gott. Aber im Judentum ist es ebenfalls wichtig, dass ich die Streitigkeiten, die ich mit meinen Nächsten meinen Nachbarn und meinen Freunden habe, zu Rosch ha-Schana, oder spätestens Jom Kippur ausgeräumt habe und mich mit ihnen wieder versöhnt habe, so dass ich in der Zukunft wieder normal mit ihnen umgehen kann. Das hat einen entscheidenden Anteil an der Bedeutung Jom Kippurs. 

Jom Kippur

Jom Kippur ist seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels der höchste Feiertag im Judentum. Der Versöhnungstag Jom Kippur wird als strenger Fast- und Ruhetag begangen. Das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Es gibt weder Radio- noch Fernsehprogramme. Der höchste Feiertag wird von der Mehrheit der Juden, einschließlich der nicht-religiösen, eingehalten.

DOMRADIO.DE: Dieser Gedanke könnte in der heutigen Zeit eine große Rolle spielen. Inwiefern werden diese Feierlichkeiten vom Nahost-Krieg überschattet?

Lehrer: Ich habe gestern in Berlin einen Rabbiner getroffen, der mir erzählt hat, dass er zu Neujahr in seiner Gemeinde vorgebetet hat. Er sagte, dass er sich nicht auf die innere Einkehr, die innere Konzentration, auf das Gebet, sich selbst und gegenüber Gott konzentrieren konnte. Der Krieg und die Probleme, die das mit sich bringt, sind ihm dabei immer wieder durch den Kopf gegangen. Er konnte sich sich nicht auf die eigenen Fehler und Probleme konzentrieren. Ich glaube, das gilt für viele Gemeindemitglieder und für viele jüdische Menschen. In diesem Jahr geht es nicht nur um die innere Umkehr. Diese unlösbaren Probleme in Nahost werden auch in meinen Gebeten eine Rolle spielen.

DOMRADIO.DE: Wie schauen Sie persönlich auf die Situation? 

Lehrer: Im Moment bin ich sehr pessimistisch. Ich war ein Anhänger der Zweistaatenlösung. Aber ich sehe im Moment nicht mit wem man sie realisieren könnte. Mit der Hamas? Nachdem, was sie sich geleistet haben? Undenkbar. Mahmoud Abbas im Westjordanland, der auch seit vielen Jahren keine Wahlen abgehalten hat und mit militärischer oder polizeilicher Gewalt regiert, ist auch kein wünschenswerter Partner für eine Zweistaatenlösung. Ebenso wenig die Hisbollah. 

Ich sehe auch nicht, dass die arabischen Staaten die Verwaltung von Gaza oder vom Westjordanland übernehmen könnten. Ich glaube nicht, dass die sich das antun werden. 

DOMRADIO.DE: Unterstützen Sie den Krieg, wie er dort herrscht, oder lehnen Sie ihn ab?

Lehrer: Ich glaube wir sind zu weit weg. Ich unterstütze natürlich das Selbstverteidigungsrecht Israels. Das steht außer Frage. Ob alles, was Israel macht, gerechtfertigt ist? Ich kann und will mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen. Ich kann von hier aus nicht beurteilen, ob Israel übers Ziel hinaus schießt. Ich bin ein Bürger hier in diesem Staat und nicht in Israel.

Abraham Lehrer

"Fangen wir mit diesem blöden Wort "Israelkritik" an, das gibt es für kein anderes Land."

Dass Israel immer mit unterschiedlichem Maßstab bemessen wird, als alle anderen Länder, sollte mittlerweile auch beim Letzten angekommen sein. Fangen wir mit diesem blöden Wort "Israelkritik" an, das gibt es für kein anderes Land. Die Besonderheiten, die im Nahen Osten gelten, sind schwer fassbar. 

Fangen Sie bei der UNRWA an, dem "Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten". Wenn es stimmt, dass dieses Hilfswerk für den Friedensnobelpreis in Erwägung gezogen wurde, nachdem klar erwiesen wurde, und die UNO selber zugegeben hat, dass ein Großteil der Mitarbeiter am Massaker am 7. Oktober beteiligt war, muss man sich fragen, welche Bedeutung die UNO, oder welche Bedeutung der Friedensnobelpreis heute noch haben kann.

DOMRADIO.DE: Die Sicherheitslage hat sich auch für jüdische Menschen in Deutschland verändert. Mussten Sie sich auf die Feierlichkeiten besonders vorbereiten? 

Lehrer: Einzelheiten über unsere Sicherheitsmaßnahmen oder darüber, ob sich bei uns was verändert hat, geben wir grundsätzlich nicht preis. Das wäre kontraproduktiv. An und für sich sind wir mit der Zusammenarbeit mit der Polizei  sehr zufrieden. Minister Reul hat ja auch angeordnet, dass die jüdischen Einrichtungen zu den Feiertagen gut im Auge behalten werden. Da fühlen wir uns gut aufgehoben und abgesichert. Manchmal würden wir uns noch einen Polizeiwagen mehr wünschen, aber das ist ja generell der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Gefährdungseinschätzung.

DOMRADIO.DE: Wie unterscheiden die sich?

Lehrer: Die subjektive ist die gefühlte des Menschen oder der jüdischen Gemeinschaft. Eine potenzielle Bedrohung nehmen wir natürlich viel intensiver wahr als die Polizei oder der Staatsschutz; die Institutionen, die darüber zu entscheiden haben. Da kommen wir manchmal zu unterschiedlichen Bewertungen. Aber nochmal: Wir beklagen uns nicht über die Sicherungsmaßnahmen der Polizei.

DOMRADIO.DE: Was halten Sie eigentlich von der AfD? 

Lehrer: Schauen Sie sich das Parteiprogramm an. Überall dort wo muslimisch oder islamisch steht, könnte man auch das Wort jüdisch einsetzen. 

DOMRADIO.DE: Welche Wünsche und Zukunftshoffnungen sind für Sie mit Jom Kippur verbunden? 

Lehrer: Ich gehe davon aus, dass dieser Tag in Ruhe und in Andacht gefeiert werden kann. Ich gehe auch nicht von großen Störungen aus. Ich hoffe, dass wir nicht mit einem Anschlag wie in Halle konfrontiert werden. 

Abraham Lehrer

"Was wir aber vermissen, ist ein Zeichen aus der Mitte der Gesellschaft, das uns sagt: Wir wollen euch!"

Das zweite, was ich mir wünsche, ist nicht religiös begründet. Die Politik, viele große Organisationen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände haben sich eindeutig positioniert, was den Antisemitismus und die Bedrohung der jüdischen Gemeinschaft angeht. Das ist wunderbar. Was wir aber vermissen, ist ein Zeichen aus der Mitte der Gesellschaft, das uns sagt: 'Wir wollen euch! Ihr seid hier nicht nur geduldet. Wir wollen dass ihr mit uns und unter uns lebt.'

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten
Die beliebtesten Nachrichten der Woche