Demokratischer Parteitag in Chicago: Bidens langsamer Abschied
«Amerika, ich gab dir mein Bestes», sagt Joe Biden zum Abschied in Chicago
Am ersten Tag der Democratic National Convention hält der amerikanische Präsident eine emotionale Rede und blickt zurück auf ein halbes Jahrhundert als Politiker. Die Wahl von Kamala Harris als Vizepräsidentin sei die beste Entscheidung seiner Karriere gewesen.
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Eigentlich hätte er als Präsidentschaftskandidat die Democratic National Convention krönen sollen, mit einer Schlussrede als Finale. Nun aber sprach Joe Biden am Anfang, zur Eröffnung im riesigen United Center in Chicago. Die grosse Bühne wird am Donnerstag, dem letzten Tag der Grossveranstaltung, dem neuen Star der Demokraten zur Verfügung stehen – Kamala Harris. Der Parteitag wurde für den amerikanischen Präsidenten unverhofft zu einer Abschiedsveranstaltung, auch wenn er noch ein paar Monate im Amt sein wird. Nach seinem Auftritt in Chicago zieht er sich für den Rest der Woche in die Familienferien zurück und überlässt das Scheinwerferlicht anderen. Das ist bezeichnend; wie schon zu Anfang seiner Präsidentschaft scheint er sich wieder als Übergangspräsidenten zu sehen und will offenbar vor allem den Boden für Harris bereiten.
Umkehrung der RollenBiden sagte zwar, er wolle nicht zurückblicken, sondern nach vorn und die Fackel weiterreichen. Aber nun ist der 81-jährige Präsident auf einmal zu einer Figur der Vergangenheit geworden. Zwar lobten alle Redner Joe Biden in den höchsten Tönen. Er habe die schwere Entscheidung zugunsten seines Landes getroffen und seine persönlichen Ambitionen zugunsten des Allgemeinwohls zurückgestellt. Aber zugleich wissen es alle: Biden hat Kamala Harris nicht freiwillig Platz gemacht, sondern erst auf vehementen Druck seines Umfelds. Dies und die Erinnerung an die desaströse TV-Debatte liessen ihn am Parteitag als etwas tragische Figur erscheinen, die den Abschied, zusammen mit seinen Wegbegleitern, so würdig wie möglich zu gestalten versucht.
Zur plötzlichen Umkehr der Rollen passte auch, dass Kamala Harris, entgegen den Gepflogenheiten und unangekündigt, schon am Montagabend kurz auftrat, noch vor Biden. Sie forderte die Menge auf, Biden zu applaudieren, aber es waren offensichtlich ihre Menge und ihr Moment. Die stehende Ovation galt ebenso ihr wie Biden, und sie galt Biden nicht zuletzt deshalb, weil er ihr Platz machte.
Aus der besten Sendezeit gedrängtWeil die vielen Reden, die bereits um 17 Uhr (Ortszeit) begannen, länger dauerten als geplant, wurde Biden zu seinem Unglück auch noch aus der Prime Time hinausgedrängt. Als er, nach einer Einführung von First Lady Jill Biden und Tochter Ashley, um 22 Uhr 30 endlich auf die Bühne trat, war die beste Sendezeit längst vorbei, und viele Amerikaner lagen wohl bereits im Bett. Auch dies passte zur bittersüssen Atmosphäre.
Das Publikum applaudierte und applaudierte, so dass er etwa fünf Minuten warten musste, bevor er mit seiner Rede beginnen konnte. Vielleicht stellte er sich die Frage, ob die Ovation seiner Leistung galt oder seiner Entscheidung, Platz zu machen. Auf jeden Fall wischte er sich Tränen aus dem Gesicht.
«Thank you, Joe!», rief die Menge. «America, I love you!», rief er zurück.
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Biden zählte ausführlich die Leistungen seiner Präsidentschaft auf, mit den Stichworten Infrastruktur, Arbeitsplätze, Mittelklasse, Gewerkschaften, Covid-19, Bildung, Medikamentenpreise, Krankenversicherung und öffentliche Sicherheit. Es heisst, er habe seine ursprüngliche Rede aus der Zeit, als er noch Kandidat war, umgearbeitet, und tatsächlich klang es über lange Strecken wie eine Wahlkampfrede.
Auch den brisanten Themen Ukraine, China und vor allem Israel wich er nicht aus. Für den Gaza-Krieg forderte er eine Waffenruhe. Und dann nahm die Kritik an Trump viel Platz ein. Erst zuletzt kam er auf Harris zu sprechen. «Sie als Running Mate zu wählen, war die beste Entscheidung meiner Karriere», so Biden. «Wie viele unserer besten Präsidenten war sie zuerst Vize», sagte er, um dann hinzuzufügen: «Das war ein Witz.» Biden selbst war bekanntlich Obamas Vizepräsident.
«Ich empfinde keine Wut»Auf seinen Rückzug aus dem Rennen ging er kaum ein. Er empfinde keine Wut, sagte er lediglich. «Ich liebe mein Land und habe noch einiges vor in den Monaten, die mir als Präsident bleiben.» Tatsächlich zeigte er in seiner einstündigen Rede so viel Energie wie schon lange nicht mehr.
Offensichtlich war es ihm ein Anliegen, klarzumachen, dass Harris seine Arbeit weiterführen würde. Er betonte die Kontinuität und die Parallelen ihres Werdegangs, indem er etwa sagte, sie seien beide Aufsteiger aus bescheidenen Verhältnissen, denen die Mittelklasse am Herzen liege.
«Wir retteten die Demokratie im Jahr 2020, wir müssen sie wieder retten», rief er. Und, in einem eher melancholischen Rückblick auf seine fünfzigjährige Karriere: «Man sagte mir damals, ich sei zu jung, um Senator zu werden, und nun, ich sei zu alt, um Präsident zu bleiben. Amerika, ich gab dir mein Bestes.»
Die frühere Aussenministerin und der GewerkschaftsführerBemerkenswert war auch die Rede der früheren Aussenministerin Hillary Clinton. Sie zeichnete eine Geschichte der amerikanischen Frauen, die vor 104 Jahren mit dem Stimmrecht begonnen hatte, 1972 zur schwarzen Abgeordneten Shirley Chisholm führte, die für die Präsidentschaft kandidierte, zu Geraldine Ferraro, die 1984 als erste Frau als Vizepräsidentin nominiert wurde, zu Hillary Clinton selbst, die sich 2016 als erste Frau einer Präsidentschaftswahl stellte, und schliesslich zu Kamala Harris, die es nun erneut versucht, gegen denselben Gegner wie damals Hillary Clinton.
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Im Dunkel des Stadions leuchteten digitale Banner mit Slogans wie «History is in our hands» und «Spread the faith», Sätzen, mit denen Biden oft seine Reden beendet hatte.
Shawn Fain, Präsident der United Auto Workers, einer Gewerkschaft mit 370 000 Mitgliedern, die seit einem Jahr mit historischen Streiks für Aufsehen sorgt, pries Biden und Harris als Unterstützer der Arbeiterklasse, während er ein rotes T-Shirt mit dem Slogan «Trump ist ein Streikbrecher» trug.
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Alexandria Ocasio-Cortez, die ebenfalls den linken Flügel der Demokraten vertritt, zeigte sich überzeugt, dass sich Harris für die Sache der Palästinenser einsetzen werde. Das Gaza-Thema birgt Sprengstoff für die Demokraten, weil die Meinungen dazu in der Partei divergieren, und Harris hält sich bis jetzt mit Positionierungen zurück. Am Montagnachmittag demonstrierten einige tausend Teilnehmer gegen den Krieg im Nahen Osten, weniger als erwartet. Es kam zu einigen Scharmützeln mit der Polizei, aber die befürchtete Eskalation blieb aus.