Analyse: Biden setzt auf den großen Schlusserfolg
US-Wahl 2024
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US-Präsident vor der Wahl Biden setzt auf den großen SchlusserfolgStand: 25.07.2024 19:05 Uhr
US-Präsident Biden hat eine ambitionierte Rest-Agenda bis zum Ende seiner Amtszeit vorgelegt. Statt um Wahlkampf geht es jetzt um sein Vermächtnis - und darum, nicht als schwach in Erinnerung zu bleiben.
Zum Schluss hat er die Messlatte noch einmal hoch gehängt: US-Präsident Joe Biden verknüpfte seine erste Abschiedsrede gestern Abend zur besten Sendezeit mit dem Verkünden einer ambitionierten Rest-Agenda. Bis er im Januar aus dem Weißen Haus auszieht, will er einen Durchbruch im Nahost-Konflikt erzielen, den Zusammenhalt der NATO stärken - um Putin in seine Schranken zu verweisen - und den Obersten Gerichtshof reformieren, der gerade noch seinem Rivalen Donald Trump eine beinahe absolute Immunität beschert hatte. Eine Menge Holz für gerade einmal sechs restliche Monate im Amt.
Scheidende Präsidenten werden in den USA gern als "lame duck" bezeichnet, als lahme Ente. Sie üben freiwillige Zurückhaltung, um keine Pflöcke mehr einzuschlagen, die ihre Nachfolger dann womöglich sofort wieder ausreißen. Das Polit-Urgestein Biden hat das Dutzende Male miterleben können. Was treibt ihn also zu seinen vollmundigen Ankündigungen?
Abgang wider WillenVermutlich sieht er schlicht sein Erbe in Gefahr. Dass nach einer außergewöhnlichen jahrzehntelangen politischen Karriere in den Geschichtsbüchern stehen könnte, dieser Präsident sei an Selbstüberschätzung gescheitert, dürfte eine Horrorvorstellung für Biden sein. Sein Abgang wider Willen ist für ihn schon schwer genug zu verdauen. Dann wenigstens der mehr als respektable Leumund, den Vizepräsidentin Kamala Harris diese Woche bereits vorformulierte: Biden - das war einer, der in einer Amtszeit mehr erreicht hat also so mancher Präsident in zweien.
Für Biden geht es ab sofort nicht mehr um Zustimmungsraten und Spendeneinnahmen, sondern um sein politisches Vermächtnis. Ab sofort steht Harris im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Bidens Einfluss wird von Tag zu Tag schrumpfen. Nach der demütigenden Erfahrung, dass ihm zum Schluss die Zügel entglitten, greift er jetzt für das letzte Kapitel wieder selbst zur Feder.
Trump traut man mehr zuDie gestrige Ansprache war der erste Versuch, ein Narrativ der Schwäche - von seinen eigenen Freunden und Weggefährten aus dem Rennen gekippt worden zu sein - in eine Erzählung der Stärke umzudeuten: Hier leistet einer persönlichen Verzicht für ein höheres Ziel. Sein Rückzug diene nichts Geringerem als der Rettung der Demokratie, betonte Biden. Eine Nummer größer geht es kaum.
Zu den Alarmsignalen, die den Eindruck von Bidens Abbau immer weiter verstärkt hatten, zählt auch, dass ihm das Gespür für die Stimmung im Land abhandengekommen zu sein schien. Stichwort: "It's the economy, stupid!" In der Fernsehansprache rühmte sich Biden in fast schon Trumpscher Manier, die "stärkste Wirtschaft in der US-Geschichte" geschaffen zu haben.
Und tatsächlich lassen sich immer wieder Zahlen finden, die ihm ökonomischen Erfolg bescheinigen. Heute erst wurde verkündet, dass die US-Wirtschaft im zweiten Quartal dieses Jahres um 2,8 Prozent gewachsen ist; in Deutschland unvorstellbar. Doch dem Lebensgefühl der Wählerschaft entspricht das nicht: Im Mai waren nur 23 Prozent mit der wirtschaftlichen Entwicklung zufrieden, nur 17 Prozent halten Biden für wirtschaftspolitisch kompetent. Trump traut man mehr zu.
Harris überstrahlt ihn längstGerade Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen ächzen unter den hohen Lebensmittel- und Energiepreisen. Gute Bildung und Wohnen sind für viele unbezahlbar geworden. Diese Trends halten sich schon viel zu lange hartnäckig und dürften kaum auf den letzten Metern von Bidens Präsidentschaft gedreht werden.
Biden setzt auf einen Schlusserfolg, daher die ambitionierte To-do-Liste. Einen Schlussakkord, der doch noch einen anderen Ton setzt als die Mollklänge der vergangenen Wochen.
Ob ihm das gelingt? Angesichts der bisherigen Erfahrung mit "lame ducks" kaum vorstellbar. An Harris wird es nicht scheitern: Sie überschlägt sich jetzt schon mit Lob für ihren politischen Ziehvater. Und überstrahlt ihn doch längst.
Sollte Biden das ersehnte letzte Hurra vergönnt sein, dann wäre das eine gute Nachricht: Alle seine Restvorhaben kämen Amerika zugute. Was dem Land nach Biden blüht, das ist von großer Ungewissheit. Es könnte sich sehr bald nach Biden zurücksehnen.