Die letzte Ausgabe der ORF-Talkshow „Im Zentrum“ stimmte auf die Weihnachtsfeiertage ein. Denn die Frage „Darf man wirklich nichts mehr sagen?“ wird nach ein paar Gläsern Eierlikör schon bald wieder auf Familienfeiern im ganzen Land zu hören sein. Mit ihr überschrieb Moderatorin Claudia Reiterer zugleich das finale Kapitel einer Sendung, die in Österreich Fernsehgeschichte schrieb. 18 Jahre lang – die letzten acht unter Reiterer – saßen Politiker, Promis, Polarisierer und Beschwichtiger auf den zuletzt milchkaffeebraunen Sesseln im Studio und „redeten darüber“, so wie das Motto der Sendung lautete. Durchschnittlich 454.000 Leute sahen dabei zu, wie über Wahlen und Wirtschaftskrisen, Hass im Netz oder H. C. Strache debattiert wurde – Dinge eben, die Herr und Frau Österreicher bewegten.
Vor dem Panorama-Poster der Wiener Innenstadt versammelten sich zum Abschied die Journalistin Ingrid Brodnig, der Fernsehphilosoph Richard David Precht, die Grüne Politikerin Meri Disoski und der Intendant der Wiener Festwochen Milo Rau. „Warum haben so viel mehr Menschen das Gefühl, nicht mehr ihre Meinung sagen zu dürfen, Herr Precht?“, richtet sich Reiterer zunächst an den deutschen Gast im Nadelstreifanzug. „Ich würde sagen, weil die allgemeine Empfindlichkeit und Reizbarkeit gestiegen ist“, hat der gleich als Antwort parat. Dass man heute nichts mehr sagen dürfe, verneint Disoski. Man solle da lieber einmal nach Afghanistan, Russland oder Ungarn schauen. Als Teil der Gesellschaft habe man „die Verantwortung, niemandem etwas Negatives zuzufügen.“ Rau glaubt, dass die bisher zu Wort gekommenen „beide recht haben“. Für Brodnig leben wir „in einer Zeit von Fake-Verboten“, nicht der Zensur. An dieser Stelle muss man sich fragen: Können vier Leute miteinander streiten, die im Grunde eine ähnliche Meinung haben?
Vielleicht sind es ja gar nicht die Inhalte, durch die sich eine Talkshow ins kollektive Gedächtnis einprägt. „Im Zentrum“ hat neben den Debatten, die das Land prägten, auch große Momente österreichischen Polit-Wahnsinns dokumentiert. Prägender als es gelungene Gespräche jemals sein können, sind Ereignisse wie der bizarre Auftritt Karl-Heinz Grassers, als er sich live auf Sendung als „zu jung, zu schön, zu intelligent“ beschrieb. Oder Matthias Strolz, der die damalige ÖVP-Landwirtschaftsministerin Köstinger mit „Elli, es ist vorbei“ zum Rücktritt aufforderte.
Auch die letzte Sendung von „Im Zentrum“ hat ihre unterhaltsamen Momente. Etwa, wenn sich der in den Medien dauerhaft präsente Precht zugleich als Feind der Rechten wie auch der Linken empfindet und Brodnig entgegnet: „Reden wir über konkrete Beispiele. Reden wir nicht über Gefühle.“ Für eine volle Diskussionsstunde reichen diese Dialoge aber nicht ganz aus. Schlüssig sind die Argumente der Gäste allemal, als eine Debatte im klassischen Sinn kann dieses Gespräch aber kaum durchgehen.
Man kann Claudia Reiterer zugutehalten, dass sie nicht die Strategie anderer Talkshows verfolgt, sich auf Teufel komm raus einen Advocatus Diaboli in die Sendung zu holen. In der Vergangenheit hat dies zu Fällen von „False Balance“ geführt, wenn man etwa die Position von Klimawandelleugnern durch geteilte Podien mit echten Wissenschaftlern legitimierte. Woran die Folge (und nicht nur die eine) aber krankt, ist die schiere Größe des Themas: Es fallen Begriffe wie Cancel Culture, Corona, ja sogar die Band Rammstein. „Wir vermengen gerade sehr viel“, sagt Brodnig an einer Stelle, und das trifft den Nagel auf den Kopf. Ab 12. Jänner übernimmt Susanne Schnabl die noch namenlose Nachfolgesendung. Wie es mit Reiterer weitergeht, ist noch nicht klar. Was man sich für die Zukunft des Talkfernsehens wünschen kann, sind zugespitzte Themen. Und mehr Mut zum Dialog mit Andersdenkenden, die polarisieren – und die starke Meinungen mit Fakten stützen können.