„The Piano“ bei Vox: Igor Levit sucht Deutschlands Super-Pianisten

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TV-Format „The Piano“

Igor Levit sucht Deutschlands Super-Pianisten

Stand: 24.09.2024Lesedauer: 5 Minuten

Igor Levit - Figure 1
Foto DIE WELT
Igor Levit und Marc Forster lassen Klavier spielenQuelle: RTL

In der neuen Vox-Serie „The Piano“ dürfen Laien überall in Deutschland – in Einkaufszentren, in Bahnhöfen – um die Wette Klavier spielen. Marc Forster und der Pianist Igor Levit sind die Jury. Und es geschieht ein kleines Wunder.

Der Herbst kommt – und das ist in der Regel auch die Zeit für Neues von Igor Levit. Nicht, dass Deutschlands inzwischen wahrscheinlich bekanntester Pianist sonst verschwunden wäre. Auch wenn er jenseits des Podiums in den Konzertsälen deutlich weniger und leiser präsent ist. Dafür engagiert, der mit acht Jahren aus Russland nach Deutschland eingewanderte Künstler, der dieses nunmehr kriegerische Russland noch nie als seine wirkliche Heimat betrachtet hat, sich gerade umso mehr gesellschaftlich.

Je mehr in seiner Umgebung nach dem 7. Oktober über das Hamas-Verbrechen am israelischen Volk geschwiegen wurde, ja er einen wachsenden Antisemitismus feststellen musste, desto stärker wurde sein Widerstandsgeist, gegen das vermeintlich progressive Milieu in Deutschland und durchaus auch gegen die aktuelle israelische Regierung.

Den lebt er aber inzwischen anders aus als früher in seinen Wortmeldungen zu allem Möglichen in seiner heftigen, grünflirtenden „Ich erklär’ euch die Welt“-Twitter-Phase. Die hat ihm bei Wikipedia neben der Berufsbezeichnung „Pianist“ die des „politischen Aktivisten“ eingebracht. Und das nur, weil er, anders als die meisten seiner Zunft, den Mund aufmacht.

Immerhin, seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs und dem Hamas-Überfall beziehen auch einige andere Klassikkünstler Stellung. Igor Levit aber gibt Benefizkonzerte, eben wieder mit Freunden aus allen Lagern und musikalischen Ecken: eines in der Elbphilharmonie „Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus“, einfach als „Appell an die Menschlichkeit“. Und er macht auch sonst sein Klavierding, weltweit, mit nicht nachlassendem Erfolg.

Igor Levit - Figure 2
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Und jetzt ist es wieder Herbst – und es gibt gleich zweifach- oder vierfach, je nach Zählung, Neues von Igor Levit. Zum einen veröffentlicht Sony am 4. Oktober eine seiner berühmt-berüchtigten, sorgsam komponierten, bisweilen auch überraschenden Dreier-Boxsets.

Aber vorher wird er ab 24. September fünf Wochen lang jeden Dienstag zur Primetime um 20.15 Uhr bei Vox für neunzig Minuten auftauchen. „The Piano“ heißt das Format. Die stets quietschfidele Moderatorin Anika Lau vermeidet es sorgsam – wir sind bei Vox, es könnte zum Wegschalten einladend bildungsbürgerlich wirken – das Wort „Klavier“ in den Mund zu nehmen.

Um das geht es aber. „The Piano“ ist ein aus England übernommenes Musikformat, so eine Art „Deutschland sucht den Tastensuperstar“. Nicht ganz so grell und bohlenbunt, dafür viel emphatischer und achtsamer. In den Bahnhöfen und Einkaufszentren Deutschlands (den Anfang macht die eindrückliche Gründerzeithalle des einst größten europäischen Kopfbahnhofs in Leipzig) dürfen klavierspielende Menschen jeden Alters sich öffentlich produzieren, fünf Minuten TV-Berühmtheit ausprobieren.

Was sie nicht wissen: Drei Stockwerke über ihnen sitzen, im Bahnhof als Jury live mithörend, nicht nur Igor Levit, sondern für die Quote auch der als Singer-Songwriter Stadien füllende Mark Forster (41), Ehemann von Lena Meyer-Landrut. Und die beiden sollen von 16 Kandidaten pro Folge nun jeweils einen herauspicken, der sie berührt und begeistert, der originell und richtig gut ist und der dann in der sechsten Woche mit ihnen in der herrlich festlichen Wuppertaler Stadthalle auftreten wird.

Am Klavier wird Leben abgearbeitet

Und so kommen jetzt Zehn- und Achtzigjährige, Laien und Profis. Die kleine Luise spielt mechanisch Mendelssohn. Die alte Ozeanpianistin hat eine swingende Bach/Brubeck-Improvisation dabei. Der Anzugträger mit Fliege pflegt den Boogie-Woogie, den Igor so gar nicht kann. Da wird am Klavier viel Leben abgearbeitet, es dient als Stimme und anderes Ich. Da treten ein Blinder und eine Rollstuhlfahrerin an.

Igor Levit - Figure 3
Foto DIE WELT

Es gibt Brahms, Chopin und viel Selbstkomponiertes. Ein Geflüchteter aus dem Iran fand nach härtester Kinderarbeit in der Türkei in Deutschland ein Klavier im Jugendclub und kam nicht mehr davon los. Marlon aus Bochum ist nicht nur Grönemeyer-Imitator, er hat auch selbst Balladen drauf. Andere entkommen in ihrer singenden, klimpernden Wohlfühlblase der Plattenbau-Tristesse oder leben einfach gern harmonisch mit Ludovico Einaudi.

Forster und Levit kommentieren, parlieren, witzeln, haben immer einen positiven Spruch drauf, umarmen alle. Sie sind nie peinlich, umschiffen alle Klippen zu scharfer Kritik oder ätzender Ironie. Es soll ja ein Kuschelformat sein. Und sie treffen am Sendungsende doch die richtige Wahl.

Forster tritt in so manches klassische Fettnäpfchen, Levit hatte mal ein T-Shirt von den Backstreet Boys. Und die Menschen da unten spielen den Soundtrack ihres Lebens, ehrlich, befreit, das Klavier gibt ihnen Halt und Freude. Eine gute Botschaft. Und gute Musik, ganz zwanglos im Fernsehen. Eine Seltenheit.

Unerwartet, aber doch schon durch einige Konzerte bezeugt ist auch die plötzlich enge Freundschaft zwischen Igor Levit und Christian Thielemann. Mögen sie nicht immer politisch geeint sein, Musik von Beethoven oder im aktuellen Fall Johannes Brahms bringt sie mühelos zusammen. Und so gibt es nun also, Levit ist immer wieder für einen stilistisch überraschenden Schlenker gut, mit beiden und als luxuriöse, warm aufpolierte Klanguntermalung mit den Wiener Philharmonikern – die beiden Klavierkonzerte von Johannes Brahms.

Zwei sinfonisch anmutende Tastenschlachtrösser, durchaus behäbig und mit langsamer Leidenschaft ausgelotet, aber in sich schlüssig fließend, mit kraftvoll gesetzten Akzenten und in leuchtende, rotgoldene Farben getaucht. Da wird kein interpretatorisches Neuland betreten, die Routine der Livekonzerte erlaubt aber trotzdem eine überdurchschnittlich erhabene, trotzdem schöne Interpretation.

Und nach diesen beiden CDs folgt noch eine Soloscheibe Igor Levit, vollgepackt mit späten Brahms-Fantasien wie Intermezzi. Die klingen mal roh klirrend, mal zärtlich verspielt und in tiefe Melancholie gehüllt. Alter Brahms eben, analytisch, aber auch gefühlvoll ausgehorcht, zurückhaltend, aber energetisch gespielt. Da ist Igor Levit ganz bei sich, konzentriert sich auf Technik, Emphase, Ausdruck. Es klingt wach, ernst, gespannt, aber nicht hysterisch, ängstlich, überreizt. Auch Levit ist der alles verzeihende, gelassene, stilvoll dahintreibende Brahms ein Tröster – wie den Laien im Bahnhof ihre Musik.

Und ganz am Ende der dritten CD, da gibt es für eine Minute sogar noch den in graziösen, nicht zu schweren A-Dur-Walzer, op. 39, Nr. 15, in einer Version zu vier Händen mit dem einstigen Repetitor Thielemann. Selbst zwei so unterschiedliche Menschen finden sich in der Musik vereint: Kitschig, aber wahr. Und irgendwie tröstlich. Der Herbst, er soll nur kommen.

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