Harry Kane, der unsichtbare König von England

11 Jul 2024
Harry Kane
Kurz vor erster Titel-Krönung Harry Kane, der unsichtbare König von England

Von Emmanuel Schneider, Dortmund 11.07.2024, 09:40 Uhr

Englands Kapitän Harry Kane ist ein EM-Phänomen. Der Bayern-Stürmer bleibt über weite Strecken des Turniers und auch im Halbfinale gegen die Niederlande blass, macht dann aber ein wichtiges Tor. Der Traum vom ersten Titel ist zum Greifen nahe.

Die wohl zweitwichtigste Aktion von Harry Kane im EM-Halbfinale gegen die Niederlande war seine Auswechslung. Der weitgehend glücklose Angreifer der Three Lions kam in der 81. Minute vom Feld und machte Platz für Joker Ollie Watkins. Der umstrittene England-Trainer Gareth Southgate ebnete mit dieser Auswechslung den Weg für den Wahnsinn in den letzten Minuten dieser Partie. Als die meisten schon in Gedanken in der Verlängerung waren, traf Watkins - und Kane jubelte an der Seitenlinie. Der Routinier war der erste Auswechselspieler, der dem Torschützen entgegeneilte und ihn umarmte. Die letzten Minuten der Nachspielzeit stand er coachend an der Seitenlinie. Mit dem Schlusspfiff entlud sich all die Anspannung. England und sein Kapitän Harry Kane stehen im EM-Finale.

Für den 30-Jährigen ist diese Euro in seiner neuen Wahlheimat kein einfaches Turnier. Kane wirkt mitunter müde, ließ sich gar mit dieser Begründung im Viertelfinale gegen die Schweiz in der Verlängerung auswechseln, war nicht Teil des Elfmeterschießens. Das sorgte auf der Insel für Kritik. "Enttäuschend" ist eine Fan-Meinung, die man selbst nach dem erfolgreichen Halbfinale noch von englischen Fans hört. Bisher konnte Kane nicht an seine starken Leistungen aus der Bundesliga anknüpfen, wo er 36 Tore für den FC Bayern erzielte.

Niederlande - England 1:2 (1:1)

Tore: 1:0 Simons (7.), 1:1 Kane (18., Foulelfmeter nach Videobeweis), 1:2 Watkins (90.)
Niederlande: Verbruggen - Dumfries (90. Zirkzee), de Vrij, van Dijk, Aké - Schouten, Reijnders – Malen (46. Weghorst), Simons (90. Brobbey), Gakpo - Depay (35. Veerman). - Trainer: Koeman
England: Pickford - Walker, Stones, Guehi - Saka (90. Konsa), Mainoo (90. Gallagher), Rice, Trippier (46. Shaw) - Bellingham, Foden (80. Palmer) - Kane (81. Watkins). - Trainer: Southgate
Gelbe Karten: Dumfries, van Dijk, Simons - Bellingham, Saka, Trippier
Zuschauer: 62.000 (ausverkauft) in Dortmund

Die Kritik in der Heimat fiel teils harsch aus. Der Kapitän wurde nach den vergangenen Auftritten unter anderem als "unbeweglich" bezeichnet, als Problemfall, "nicht nützlich" und "faul". Die Boulevardpresse forderte schon die Verbannung auf die Bank. Selbst Southgate sprach davon, dass sein Mittelstürmer "vielleicht nicht im Fluss" sei, verteidigte ihn aber vehement. "Er spielt immer noch eine immense Rolle für die Gruppe", sagte der Coach.

Kane ist Führender der Torjägerliste

Die Geschichte von Kane in diesem Halbfinale ist schnell erzählt. Zwei Torschüsse, 27 Ballkontakte, eine Chance, ein verwandelter Elfmeter, eine Auswechslung. Ansonsten wenig Zählbares und wenig, was in Erinnerung bleibt. Aber eben auch der wichtige Treffer zum 1:1-Ausgleich noch innerhalb der ersten 20 Minuten.

Und das in einer Halbzeit, in der die Engländer endlich mal offensiv andeuteten, was sie drauf haben. Die meisten Akzente aber kamen nicht von Kane, sondern von den Youngsters Phil Foden, Bukayo Saka und Jude Bellingham in seinem alten Wohnzimmer. Auch in dieser Partie wirkte Kane vor den Augen von Englands Musik-Queen und Tottenham-Edelfan Adele seltsam gehemmt, nicht so agil wie gewohnt. Ein bisschen überspielt und fast schon verzweifelt, als würde er - frei nach Adele - den Regen in Brand setzen wollen. Inwieweit Rückenprobleme, die ihn schon in der Bundesliga-Rückrunde plagten, eine Rolle spielen, ist unklar.

Und trotzdem steht er nach dem Halbfinale bei drei Toren und damit sogar auf dem geteilten ersten Platz der EM-Torjägerliste. Kane gelangen durchaus wichtige Treffer. Der Bayern-Angreifer traf zum entscheidenden 2:1 in der Verlängerung gegen die Slowakei und zur Führung gegen Dänemark im Gruppenspiel. Gegen die Elftal behielt er nun vom Elferpunkt die Nerven.

Was wird aus dem Titelfluch?

Mit seinem Einsatz gegen Denzel Dumfries in der 14. Minute holte er selbst den Elfmeter raus und verwandelte den fälligen Strafstoß souverän zum Ausgleich in die linke Ecke. Kurz zuvor hatte er Oranje-Keeper Bart Verbruggen mit einem Schuss getestet. Mehr Offensivakzente gab es dann auch nicht bis zur folgenreichen Auswechslung.

Und trotzdem hatte er einen großen Anteil am Finaleinzug, dem zweiten in Folge bei einer EM. Bei der imposanten Karriere von Kane verblüfft dann doch immer diese Statistik. Der Bayern-Star hat zwar individuelle Auszeichnungen wie Torjägerkanonen gewonnen (zum Beispiel in seiner ersten Saison in der Bundesliga), aber noch keinen wichtigen Titel in seiner Karriere. Keinen Meistertitel, keinen Champions-League-Titel, weder mit Tottenham Hotspur, Leicester City oder dem FC Bayern, noch mit der Nationalelf.

Zugespitzt könnte man von einem Titelfluch sprechen. Vertreter dieser These fühlten sich bestätigt, als ausgerechnet nach seinem Wechsel gen München der FC Bayern erstmals seit 2012 titellos blieb. Und mit Titellosigkeit kennen sich die Three Lions aus. Der letzte große Erfolg stammt aus dem Jahr 1966 - genau, das Turnier mit dem Wembley-Tor.

Der Traum vom ersten Erfolg seit 58 Jahren lebt nach dem Schlusskrimi in Dortmund. Und wie. Die Euphorie im Stadion war spürbar. Nach fast eine halbe Stunde nach Abpfiff sangen die Fans im Block inbrünstig ihre Klassiker. Erst "Sweet Caroline", am Ende "Football's Coming home". Der Fußball, er soll endlich nach Hause ins Mutterland kommen. Diesmal wirklich?

Kanes Final-Ansage

2021 stand das Team von Southgate schon mal im Finale. Ausgerechnet in Wembley. Alles war angerichtet, um das Fußball-Märchen endlich wahr werden zu lassen. Der Traum zerbrach brutal im Elfmeterschießen gegen Italien. Auch Kane stand auf dem Platz, 120 Minuten, übernahm beim Elferschießen Verantwortung und versenkte den ersten Schuss. Dann musste er beim Drama von Wembley zugucken. Drei Jahre später soll es endlich klappen mit dem ersehnten Titel. Der Sehnsuchtsort heißt nun Olympiastadion Berlin.

"Wir haben Geschichte geschrieben!", sagte Kane nach der Partie: "Ich bin so stolz auf alle, auf die Spieler, auf die ganze Gruppe. Es war bisher so ein schwieriges Turnier für uns." Im Finale gegen Spanien "werden wir alles tun, was nötig ist. 90 Minuten, 120 Minuten, Elfmeterschießen - wir wollen den Weg zu Ende gehen."

Im Finale in Berlin kann Kane dann seinen Rekord ausbauen. Der unsichtbare König hat auch hier den Thron bestiegen: Mit sechs Treffern ist er nun der beste Torschütze der EM-Geschichte in K.-o.-Spielen. Ein Mann für die wichtigen Tore - auch wenn er bis dahin mal unsichtbar sein muss.

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