Deutschland: Grünen-Vorstand tritt geschlossen zurück
Deutschland
Die Grünen in Deutschland ziehen personelle Konsequenzen aus ihrer Serie von Wahlniederlagen und bauen die Parteiführung um. Die beiden Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour kündigten am Mittwoch in Berlin ihren Rückzug von der Parteispitze an. „Wir sind zum Ergebnis gekommen: Es braucht einen Neustart“, sagte Nouripour. Am Abend verkündete der Vorstand der Jugendorganisation, aus der Partei austreten zu wollen.
Online seit gestern, 10.37 Uhr (Update: gestern, 23.34 Uhr)
Die Grünen hatten bei den vier zurückliegenden Wahlen – der Europawahl und den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg – drastische Verluste erlitten. In Brandenburg hatten sie ihr Ergebnis mehr als halbiert. Aus zwei Landtagen flogen sie hinaus. Allein in Sachsen gelang ihnen knapp der Wiedereinzug ins Landesparlament.
„Es braucht neue Gesichter, um die Partei aus dieser Krise zu führen“, sagte Lang. „Jetzt ist nicht die Zeit, am eigenen Stuhl zu kleben. Jetzt ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen, und wir übernehmen diese Verantwortung, indem wir einen Neustart ermöglichen“, fügte sie hinzu.
Nach einer Serie von Wahlniederlagen haben die Vorsitzenden der deutschen Grünen, Ricarda Lang und Omid Nouripour, mit dem gesamten Parteivorstand ihren Rücktritt erklärt. Es brauche einen „Neustart“, um die Partei aus dieser Krise zu führen. Der neue Vorstand soll am Parteitag im November gewählt werden.
„Das Wahlergebnis am Sonntag in Brandenburg ist ein Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade“, sagte Nouripour. Es sei möglich, die Krise der Grünen zu überwinden. „Dabei geht es nicht um das Schicksal einer Partei allein.“ Es gehe um die fundamentale Frage, ob in Deutschland als „dem Land mit der größten Verantwortung in der Europäischen Union es in Zukunft möglich ist, weiterhin gute Politik zu machen für Frieden, für Freiheit, für Gerechtigkeit, für Wohlstand und für Klimaschutz“.
Lang und Nouripour waren Ende Jänner 2022 zu Vorsitzenden gewählt worden. In der Partei sind sie relativ beliebt. Dass zwischen ihnen – anders als bei manchen Vorgängern – keine Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten zu spüren waren, rechnen ihnen viele Parteimitglieder hoch an. Der aktuelle Bundesvorstand war im November 2023 eigentlich für zwei Jahre gewählt worden.
Vorstandsneuwahl an Parteitag im NovemberDem bisherigen Vorstand gehören neben Lang und Nouripour noch die stellvertretenden Parteivorsitzenden Pegah Edalatian und Heiko Knopf, Geschäftsführerin Emily Büning und Bundesschatzmeister Frederic Carpenter an. Nach Langs Angaben soll der Vorstand noch bis zur Neuwahl am Parteitag im November im Amt bleiben.
Lang und Nouripour äußerten sich nicht zu ihrer Nachfolge. Im Gespräch dafür sind laut Medienberichten Wirtschaftsstaatssekretärin Franziska Brantner und der Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak. Brantner ist eine enge Vertraute von Wirtschaftsminister Robert Habeck, der die Grünen als Kanzlerkandidat in die nächste Bundestagswahl führen könnte. Banaszak war früher Parteichef der Grünen in Nordrhein-Westfalen und ist ein wichtiger Repräsentant des linken Flügels.
„Fühlen uns an Koalitionsvertrag gebunden“Schon am Montag hatte Nouripour relativ resigniert geklungen. Er sprach von einer bitteren Niederlage in Brandenburg und zeigte sich zugleich konsterniert über den Zustand der „Ampelkoalition“. „Der große Feng-Shui-Moment wird wohl nicht mehr kommen, und das glaubt mir auch niemand mehr, wenn ich das sage“, sagte er nach Beratungen des Parteivorstandes.
„Wir machen unsere Arbeit, wir versuchen, das Land nach vorne zu bringen, und fühlen uns auch an den Koalitionsvertrag, an das, was miteinander vereinbart worden ist, gebunden“, sagte der Grünen-Chef. „Aber das ist es auch dann.“
Die Grünen in Deutschland befinden sich in einem Überlebenskampf. Noch hätten Teile der Partei genügend Strahlkraft, so ORF-Korrespondent Andreas Pfeifer.
Der grüne Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck nannte die Ankündigung des Parteivorstands einen „großen Dienst an der Partei“. „Dieser Schritt zeugt von großer Stärke und Weitsicht.“ Das Vorgehen sei nicht selbstverständlich, aber „ein großer Dienst an der Partei.“
Die Grünen wollen im Herbst auch entscheiden, ob sie bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken oder nur mit einem Spitzenkandidaten antreten.Nachdem Außenministerin Annalena Baerbock gesagt hat, dass sie diesmal nicht an der Spitze stehen will, läuft alles auf Habeck hinaus. „Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl“, sagte Habeck.
Die beiden grünen Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann schrieben auf der Plattform X: „Wir haben großen Respekt vor Eurer Entscheidung und der des Bundesvorstands, die Partei für kommende Wahlkämpfe neu aufzustellen.“
Scholz erwartet „keinerlei Auswirkungen auf Koalition“Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erwartet durch den Rücktritt der Grünen-Spitze keine Folgen für die „Ampelregierung“. „Das hat keinerlei Auswirkungen auf die Koalition“, so Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Mittwoch in Berlin. Weil der Vorstand bis zur Klärung der Nachfolge im Amt bleibe, entstehe keine personelle Lücke oder ein Machtvakuum. Der Kanzler habe mit beiden immer „eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet“ und bedauere diesen Schritt.
Die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil dankten der zurückgetretenen Grünen-Spitze für die Zusammenarbeit. „Wir haben gemeinsam an der Spitze unserer beiden Parteien stets verlässlich und vertrauensvoll Dinge besprochen und geklärt“, hieß es in einem gemeinsamen Statement. „Trotz mancher inhaltlicher Unterschiede war diese Partnerschaft sehr angenehm, weil sie auch menschlich belastbar war.“ Deshalb danke man Nouripour und Lang „von Herzen“. Aussagen zu möglichen Auswirkungen auf die „Ampelkoalition“ aus SPD, Grünen und FDP machten sie nicht.
CDU/CSU: „Fliehkräfte der ‚Ampel‘ nehmen zu“Unterdessen sieht der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, den Wechsel an der Grünen-Spitze als Zeichen für einen Zerfall der „Ampelkoalition“. „Die Fliehkräfte in der ‚Ampel‘ nehmen weiter zu“, sagte der CDU-Politiker am Mittwoch. „Mit dem Rücktritt des gesamten Parteivorstands der Grünen zerbröselt die Koalition vor laufenden Kameras.“
Gerade jetzt könne sich Deutschland einen weiteren Verlust an Regierungsfähigkeit nicht leisten, sagte Frei. „Anstatt in eine wochenlange Hängepartie zu schlittern, wären mutige Entscheidungen notwendig“, forderte der Abgeordnete. Die Menschen im Land erwarteten Antworten auf die sich zuspitzende Wirtschaftskrise. „Und sie verlangen eine Kehrtwende in der Migrationspolitik.“
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte die Regierung zur vorgezogenen Neuwahl auf. „Noch ein Jahr ‚Ampel‘ wird unser Land nicht verkraften“, sagte Linnemann der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. „An Neuwahlen führt kein Weg vorbei.“ Der Rücktritt sei „ein respektabler Schritt“, die Grünen müssten aber „ihre Politik grundsätzlich ändern“, sagte Linnemann.