EM: Gewaltbereite Fußball-Fans sind gefährlicher als früher

Manchmal sagt einer: „Bitte nicht so hart, wir müssen morgen arbeiten.“ Das wird dann berücksichtigt. Sie reden über Farben, die einen tragen T-Shirts in der einen, die anderen in der anderen Farbe, damit niemand den Falschen verdrischt.

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Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Auf dem Acker angekommen geht es irgendwann los, die Männer haken sich unter oder marschieren in Formation aufeinander zu, rufen irgendwas, machen sich Mut. Am Rand stehen die Anführer und feuern an. Und dann schlagen und treten sie minutenlang aufeinander ein.

Die Regel lautete früher, dass jemand, der liegt, nicht mehr geschlagen werden darf. Aber die Sitten sind heute rauer, es wird gegen den Kopf getreten, gewürgt, alles, bis zur Bewusstlosigkeit. Und dann gibt es einen Sieger, und Schluss. Manchmal klatschen sich die Gegner ab oder fahren sich gegenseitig ins Krankenhaus, es ist plötzlich niemand mehr wütend, eher euphorisch. All das kann man in Videos im Internet sehen.

„Ich bin aktiver Fußballfan“

Einer von denen, die so was machen, hört auf den Spitznamen „Goscha“, er gehört zur „Brigade Nassau“, ein Zusammenschluss von Anhängern der Frankfurter Eintracht. Aber nur weil Goscha am Wochenende durch halb Deutschland fährt, um sich in einem abgelegenen Waldstück mit fünfzig Anhängern einer anderen Fußballmannschaft zu prügeln, will er sich nicht als „Ultra“ oder gar als „Hooligan“ bezeichnen lassen. Er sagt: „Ich bin aktiver Fußballfan.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Im März 2023 verwüsteten Eintracht-Fans Teile von Neapel. Goscha sagt, er war auch in der Stadt, mehr sagt er nicht. Die Fans hatten dort einen „Spaziergang“ angekündigt, weil die Eintracht im Achtelfinale der Champions League stand, die Italiener aber keine Tickets an Frankfurter verkaufen wollten.

Dann gerieten manche mit Polizisten und Neapel-Fans aneinander. An seinen Handknöcheln zeigt Goscha Narben, dort haben sich die Zähne seiner Gegner in seine Faust gebohrt. Sein Finger war schon gebrochen.

Einmal wusste er nach einer Schlägerei nicht mehr, mit welchem Auto er gekommen war, weil er eine Gehirnerschütterung hatte. Goscha ist aber nicht nur Schlägertyp, er ist auch Akademiker. Er hat Jura studiert und Psychologie, berät Firmen beim Brandschutz, vermittelt Betriebsärzte, höflich, fein im Ausdruck, verbindlich. Goscha kann so oder so. Spenden sammeln für kranke Kinder oder jemandem mit dem Ellenbogen das Jochbein brechen.

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Die deutsche Polizei hat ein Register, das sie „Gewalttäter Sport“ nennt, darin stehen momentan 5613 Namen. Deren Gewaltkultur beschränkt sich aber auf die Bundesliga. Jetzt, bei der Europameisterschaft, sind ganz andere Fans in den Stadien, nämlich die der Nationalmannschaft. Deren Kultur sei friedlich, sagt der Fanforscher Harald Lange von der Universität Würzburg: „Das grenzt fast an Langeweile.“

Manche von Goschas Kameraden schauen sich WMs oder EMs nicht einmal im Fernsehen an. Wenn Goscha das macht, kann es sein, dass sie ihn dafür aufziehen und Witze machen. „Zu 99,9 Prozent werden aktive deutsche Fußballfans in den Stadien keinen Stress machen“, sagt Goscha. Fan-Forscher Lange schätzt das auch so ein. Einerseits.

Was, wenn die Engländer in Frankfurt randalieren?

Andererseits wird zum Beispiel England in Frankfurt spielen, mit denen hat sich die Brigade Nassau schon vor Jahren der Legende nach fünf Stunden lang geschlagen. Diese Engländer werden vielleicht im Frankfurter Bahnhofsviertel herumspazieren, vielleicht mit nacktem Oberkörper mitten auf der Straße stehen, vielleicht das gegen Deutsche gerichtete Kampflied von den „Ten German Bombers“ singen.

Und dann werden sie vielleicht in den Stripclub von Christian Eckerlin in der Elbestraße gehen. Den haben sie 2006 bei ihrem letzten Besuch halb verwüstet. Eckerlin ist MMA-Profi-Kämpfer, also einer, der beruflich damit zu tun hat, Menschen in achteckigen Käfigen blutig zu schlagen. Und er ist seit vielen Jahren Mitglied der Brigade Nassau, aber wegen seiner „Vorbildfunktion“ als Sportler, wie er sagt, nicht mehr auf dem Acker dabei.

Fans von Westham United im Frankfurter Bahnhofsviertel im Mai 2022Lucas Bäuml

Wenn dieser Eckerlin an die baldige Ankunft der Engländer denkt und wie die sich damals aufgeführt haben, sagt er: „Wäre ich aktiv, würde ich sagen: Wir lassen uns mal blicken.“ Das sieht Goscha, der Aktive, ganz genauso. Er würde einschreiten, wenn Engländer marodieren. „Ganz klares Ja.“ Aber nicht als Anhänger der Nationalmannschaft, sondern gewissermaßen als Ortskraft. „Man verteidigt Frankfurt“, sagt Eckerlin.

„Natürlich“, bestätigt Goscha, besonders wenn sie dort „aktive Fans“ aus England treffen. „Wenn dann etwas passiert, wird es niemand erfahren. Dann ist es nach zwei Minuten vorbei“, sagt Goscha. Keine Polizei, keine Anzeige, alle würden ihrer Wege gehen.

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Für Politiker wie den innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Sebastian Hartmann, sind solche Zustände eine Provokation. „Die Hooligans versuchen, den öffentlichen Raum zu beherrschen. Doch das Gewaltmonopol des Staates gilt“, sagt er.

Momentan planen die Frankfurter nichts, sie schauen, was die Gäste machen. „Bei Länderspielen ist es immer so ein Warten. Passiert was oder passiert nichts“, erklärt Eckerlin. Zum Beispiel so was wie 1990 im Achtelfinale der Weltmeisterschaft, als der Niederländer Frank Rijkaard dem Deutschen Rudi Völler in die Haare spuckte, nachdem er für ein Foul gegen Völler die Gelbe Karte bekommen hatte.

Das war eine Frechheit, die Fans tobten. Völler sprach später von einer Stimmung „auf dem Siedepunkt“. Treffen solche Mannschaften dann im Turnier noch einmal aufeinander, knallt es zwischen den Fans.

Ostdeutsche Hooligans haben etwas vor

Überschäumende Gefühle sind aber nicht der einzige Grund für Gewalt. In Ostdeutschland gibt es viele Neonazi-Hooligans, in deren Chatgruppen der Szeneforscher Robert Claus heimlich mitliest. „Ich höre aus der Szene, dass es in Kreisen ostdeutscher Hooligans zumindest den Wunsch gibt, mal wieder einen starken deutschen Mob zu präsentieren“, sagt er. Mit „Mob“ sei eine „große, szeneübergreifende, gut organisierte und gewaltfähige Gruppe“ gemeint.

Bei einer Übung vor der EM sichern Polizisten eine Gruppe von simulierten Verletzten im Stuttgarter Stadion.dpa

So eine Gruppe hätte politische Übereinstimmungen mit anderen Hooligans. Gewaltbereite Fans werden auch aus Ungarn, Serbien, Polen und England erwartet. Fanforscher Lange sagt: „Gerade bei serbischen Fans kann man immer davon ausgehen, dass sie auf Krawall aus sind.“

Das Spiel England gegen Serbien in Gelsenkirchen an diesem Sonntag ist zum Beispiel als Hochrisikospiel eingestuft, die Spiele Deutschland–Ungarn, Dänemark–England und Schottland– Ungarn ebenso. Die Fans aus Ungarn, Serbien und Polen gelten als besonders nationalistisch, das haben sie mit Hooligans aus Städten wie Magdeburg oder Berlin gemein.

Früher waren deutsche Neonazi-Hooligans besonders aggressiv, wenn die Nationalmannschaft gegen Länder spielte, die von der Wehrmacht überfallen wurden. Zum Beispiel am 1. September 2017, dem Jahrestag des Weltkriegsbeginns, als Deutschland gegen die Tschechische Republik spielte. Da wurde „Sieg Heil“ gebrüllt.

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Das ändert sich gerade. Immer mehr Rechtsextreme in Europa schwören sich auf gemeinsame Feinde ein: nicht-weiße Migranten, Muslime und alle Fußballfunktionäre, die sich für Toleranz einsetzen. So wird es denkbar, dass sich Hooligans verschiedener Länder verbrüdern.

„Diese Europameisterschaft wird nicht unpolitisch“

Sollte ein nichtweißer Spieler der deutschen Nationalmannschaft am Tor vorbeischießen oder etwas falsch machen, würde die Hetze losgehen. Szeneforscher Claus warnt: „Diese Europameisterschaft wird nicht unpolitisch.“

Bei der Gewerkschaft der Polizei sehen sie das auch so. „Hooliganszene und Ultraszene sind in Teilen ein Nährboden für extremes, vornehmlich rechtes Gedankengut. Das macht mir schon Sorgen bei diesem Turnier“ , sagt der stellvertretende Vorsitzende Michael Mertens.

Fans von Eintracht Frankfurt in Sevilla im März 2022.Picture Alliance

Die Fans sind außerdem vernetzter. 2006, beim sogenannten Sommermärchen, gab es noch kein iPhone, das kam erst ein Jahr später auf den Markt. Wer sich verabreden wollte, musste telefonieren. Wer sich geprügelt hatte, konnte jemandem davon erzählen, aber es gab meist keine Fotos oder Videos. Damals ließen sich ausländische Ultras noch von der Polizei durch die Stadt geleiten, weil sie sich nicht auskannten. Heute, mit Smartphones, lässt sich keiner mehr was sagen.

Einen Treffpunkt zu verändern dauert Sekunden, man tippt auf einen Punkt auf der Landkarte und teilt ihn in einer Chatgruppe. Gibt es irgendwo eine kleine Schlägerei, sind sofort Videos im Netz, und der Mob macht sich auf den Weg dorthin. Die Lage ist dynamischer geworden, und die gewaltbereiten Fans sind gefährlicher als früher, besonders die aus Osteuropa.

Die Hooligans von dort trinken weniger Alkohol und haben dafür mehr Kampfsporterfahrung. Als russische Hooligans bei der Europameisterschaft 2016 im Hafen von Marseille englische Fans angriffen, wurde das Ungleichgewicht deutlich: hier eher speckige, betrunkene Engländer, dort drahtige, nüchterne Russen. „Das stand symbolisch für die Weiterentwicklung des Hooliganismus“, sagt Szeneforscher Claus.

Für die Sicherheitslage in Deutschland war der Ausschluss der Russen vom Turnier deshalb eine gute Nachricht. Die berüchtigten ukrainischen Hooligans wird man auch nicht sehen, viele stehen als Soldaten an der Front. Goscha bekommt manchmal Fotos von ihnen geschickt, er kennt sie seit einer Schlägerei in Kiew, bei der ein Frankfurter erst von Ukrainern bewusstlos geschlagen und dann umsorgt wurde.

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„Die Polizei muss Fußballeinsätze nicht üben“

Fußballfans hatten in der Wintersaison der Bundesliga manchmal das Gefühl, die Polizei würde an ihnen ausprobieren, wie sie dann mit den Engländern und den Ungarn umgehen will. „In Fankreisen hat sich die Vermutung festgesetzt, dass Härte und Einsatztechnik geübt wurden“, sagt Fanforscher Lange. Die Polizei sei „überhart“ vorgegangen, zum Beispiel beim Spiel Frankfurt gegen Stuttgart im November.

Ein kleiner Tumult am Stadioneingang führte zum Aufmarsch einer Hundertschaft und schließlich zum Sturm des Fanblocks, für die Ultras ein Sakrileg. „Aus einer Mücke wurde ein Elefant gemacht“, erinnert sich Eckerlin. Nach Recherchen des Hessischen Rundfunks wurden mehr als 100 Fans verletzt. Mertens von der Gewerkschaft der Polizei kann den Vorwurf, Hundertschaften hätten deutsche Fanblocks als Übungsraum missbraucht, nicht mehr hören. „Ich sage das klipp und klar: Die Polizei muss Fußballeinsätze nicht üben. Das können wir seit fünfzig Jahren.“

Ein England-Fan vor Frankfurter Polizisten bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland im Jahr 2006.Picture Alliance

Die Erfahrung aus dieser Zeit lautet eigentlich, dass Reden mehr bringt als Knüppeln. Dazu gibt es zwei Anekdoten, eine aus dem Frankfurter Rotlichtviertel, die andere aus München, vom Champions-League-Spiel Galatasaray Istanbul gegen Bayern. Vor dem Spiel zogen türkische Fans durch die Stadt und zündeten Pyrotechnik an. Alles war voller Qualm. Die Polizei überlegte schon, ob sie einschreiten muss. Es wurde überlegt, ob man solche Fans überhaupt ins Stadion lassen sollte.

Aber die Deutschen hatten einen Joker, einen szenekundigen Beamten aus der Türkei. Der erklärte den Deutschen, dass es in Istanbul normal und üblich ist, mit einem Bengalo zum Stadion zu laufen.

Die Türken wollten also nicht provozieren, sondern machten das, was sie gewohnt waren. Dann ging der Beamte zu den Türken und wusste sofort, wer die Anführer waren. Er erklärte ihnen mit der Autorität eines heimischen Polizisten, dass so etwas in Deutschland nicht geht und dass sie den Mist ausmachen sollten, wenn sie ins Stadion wollten.

Ab da war Ruhe, kein Bengalo, kein Rauch, aber auch keine Festnahmen oder Schlagstöcke. Deshalb wird man während der Europameisterschaft auch Polizisten aus anderen Ländern sehen, sogar in ihren heimischen Uniformen, weil die Fans dann wissen, dass kundige Augen sie beobachten.

Bei Eckerlin – Elbestraße, Stripteasebar – ist das nicht anders. Wenn er wollte, könnte er brutale Typen engagieren, die seine Tür gegen englische Horden verteidigen. Seine Mitarbeiter, sagt er, seien aber ganz anders. „In erster Linie muss man mit den Leuten reden können. Darauf achte ich auch sehr. Die Leute sollen nicht direkt die Kelle auspacken. Man muss es diplomatisch regeln.“ Es geht auch friedlich.

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