Webers „Freischütz“ und Rossinis „Tancredi“ in Bregenz
Warum hat man bei den Bregenzer Festspielen auf der Seebühne jetzt ausgerechnet Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ (1821) programmiert, in der Wasser nicht einmal ansatzweise eine Rolle spielt? Hätte da nicht die fünf Jahre früher ebenfalls in Berlin uraufgeführte „Undine“ von E. T. A. Hoffmann viel besser gepasst? Die Frage erübrigt sich, denn die Planung von Freilichtproduktionen für diese Spielstätte gehorcht eigenen Kriterien. Jeweils fast siebentausend Karten für mehr als fünfzig Vorstellungen in zwei Sommern lassen sich nur „ausverkaufen“, wenn man mit volksbekannten Opernhits lockt.
Philipp Stölzl, der auf der Seebühne vor einigen Jahren bereits Verdis „Rigoletto“ inszeniert hat und jetzt auch beim neuen Bregenzer „Freischütz“ Regie, Bühne und Lichtdesign verantwortet, räumt unverblümt kommerzielle Gründe für die Stückwahl ein. Um Webers „Romantische Oper“ in diese Dimensionen zu transferieren, hat er das Stück ungeniert zum touristischen Grusical-Event aufgemöbelt. Die heute recht angestaubt wirkenden Sprechdialoge von Friedrich Kind schrieb Jan Dvořák nach einem Konzept Stölzls zeitgemäß um. Webers Partitur wurde für die pausenlose zweistündige Seebühnenfassung gekürzt und samt Geräuschdesign und Zusatzmusik von Ingo Ludwig Frenzel eingebaut in einen filmartigen Soundtrack.
Philipp Stölzl setzt auf spektakuläre Effekte
Mitten im Sommer erblickt man auf der Bodensee-Bühne eine gespenstische Winterlandschaft. Als Kulisse hat Stölzl ein halb im Schnee versunkenes „Freischütz“-Dorf mit schiefem Kirchturm, schindelgedeckten Hexenhäuschen und kahlen Bäumen errichten lassen. Verborgene Technik ermöglicht spektakuläre Effekte. Ein großes, von künstlichen Eisschollen bedecktes Wasserbecken im Vordergrund dient als nasskalter Schauplatz für viele Szenen. Über der Hinterbühne hängt eine riesige Mondscheibe, die immer wieder ihr Aussehen ändert. Mal leuchtet sie puderweiß, mal flattern unheimliche Vogelschatten vorbei, mal mutiert sie mit dunklen Kratern zum Totenkopf oder verfärbt sich blutrot. Und ständig ist Rabenkrächzen, Wolfsgeheul, Knirschen von Eis oder Donnergrollen zu hören. Schon vor Beginn der Musik heben finstere Gestalten ein Grab aus. Mit gregorianischem Singsang naht ein Trauerzug. Die Kirchenglocke bimmelt metallisch grell. Ein Mann brüllt den Namen „Agathe“, wird weggezerrt, am nächsten Baum aufgeknüpft, zappelt noch mit den Beinen und stürzt dann ins Wasser. Der Priester hat den Strick durchschnitten. Jetzt wirft er seine Kutte ab, outet sich als roter Jäger Samiel und kommentiert fortan mit zynisch-witzigen Reimen das Geschehen.
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Moritz von Treuenfels turnt in der Rolle dieses von Stölzl zum dauerpräsenten Conférencier aufgewerteten Mephisto geschmeidig über die Szene, plappert respektlos in Arien hinein oder hält kurz den „Film“ an, um dem Publikum eine Traumsequenz mit Lightshow, Glitzer und beineräkelnden Nixen anzukündigen, Popcorn inklusive. Gesine Völlms Kostüme verorten die Geschichte nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mauro Peter als Max zelebriert als traumatisierter Feingeist mit Ladehemmung seine Arien selbst bei ziellosem Stapfen durch Schlamm mühelos und intonatorisch treffsicher. Nikola Hillebrand als berührend singende Agathe und Katharina Ruckgaber als schnoddrig-emanzipiertes Dorfmädel Ännchen sind hier „beste Freundinnen“.
Aufgeschlitzte Hirsche
Ännchen ist heimlich in Agathe verliebt, würde gern mit ihr durchbrennen, lässt aufdringliche Macker abblitzen und trällert auch sturzbesoffen noch astrein im Duett. Christof Fischesser steht als basspolternder Kaspar beim Freikugelgießen in einem magisch auf Wasser brennenden Feuerkreis und steigert sich zu apokalyptischen Posaunenrufen und gutturalem Screaming in diabolische Ekstase. Pulverdampf wabert, Schüsse krachen, aufgeschlitzte Hirsche hängen an Ästen. Samiel steht auf der Kirchturmspitze, die Zeiger der Uhr laufen Amok. Überall tauchen Untote aus dem See auf und krabbeln über die giftgrün schimmernde Szene. Ein Pferdegerippe steigt aus den Fluten empor, eine Riesenschlange mit rot glühenden Augen erhebt drohend ihr Haupt.
Stölzl lässt das Wolfsschluchtritual als wackentaugliches Death-Metal-Spektakel über die ganze Seebühne hereinbrechen, zieht dabei aber zu früh alle Register. Die Zombie-Pferdeskelett-Nummern verpuffen schnell. Nach dem Spuk fällt ohnehin die Wirkung von Webers Musik ab, die Enrique Mazzola mit den Wiener Symphonikern bis dahin grandios per Fernübertragung beisteuert. Bevor es zum anfangs gezeigten tragischen Schluss kommt, zieht Samiel die Notbremse und verspricht ein oberkitschiges Happy End. Andreas Wolf darf in der Rolle des warm tönenden Eremiten als „lieber Gott“ höchstpersönlich auftreten. Aber es ist ja Gottseibeiuns, der Regie führt. Statt göttlicher Gnade verdankt sich der Sieg des Guten hier nur einer Laune des Bösen.
Frauenliebe in einer männerdominierten Gesellschaft, wie sie bei Stölzl nur am Rande vorkommt, hat Jan Philipp Gloger in seiner Inszenierung von Gioachino Rossinis erster Seria-Oper „Tancredi“ (1813) im Bregenzer Festspielhaus zum zentralen Thema gemacht. Obwohl davon im Libretto gar nicht die Rede ist, bleibt Gloger mit seiner Version enger am Original als Stölzl. Dass bei Rossini die Partie des Titelhelden von einer Frau gesungen wird, hat Gloger auf die Idee gebracht, diese Hosenrolle anders zu deuten. Bei ihm ist Tancredi tatsächlich eine Frau, die sich als Mann verkleidet, um ihre heimliche Geliebte Amenaìde im Haus von deren Vater Argirio zu treffen.
Gloger hat die mittelalterliche Handlung in südamerikanisches Bandenmilieu unserer Zeit verlegt. Rossinis verfeindete Warlord-Truppen, die obendrein von Sarazenen bedroht werden, mutieren zu Mafia-Clans, denen die Polizei auf den Fersen ist. Nolens volens müssen sich die Drogenbosse Argirio und Orbazzano nun verbünden. Ein Deal sieht auch Orbazzanos Hochzeit mit Amenaìde vor, die sich weigert und Tancredi um Hilfe bittet. Ihr Brief wird abgefangen und als todeswürdiger Verrat missdeutet. In letzter Minute taucht Tancredi auf und rettet Amenaìde, wird aber vom Polizeichef getötet.
Ben Baurs hyperrealistische Drehbühne zeigt die Innenräume von Arigios heruntergekommener Villa. Justina Klimczyks Kostüme passen zu dieser brutalen Macho-Welt. Glogers subtile, in jeder Situation filmreif ausgearbeitete Personenregie und Ran Arthur Brauns unaufdringliche Kampfchoreographie vermitteln im Verbund mit der von Yi-Chen Lin kongenial dirigierten Musik des zwanzigjährigen Rossini das inhaltlich streckenweise surreal anmutende Geschehen mehr drei Stunden lang glaubhaft.
Großen Anteil daran hat das hervorragende Gesangsensemble mit Antonino Siragusa (Argirio), Laura Polverelli (dessen Frau Isaura) und Andreas Wolf (Orbazzano). Die Stars der Produktion aber sind Anna Goryachova und Mélissa Petit, die als Tancredi und Amenaìde ihre verbotene Liebe vokal virtuos und schauspielerisch hinreißend ausleben.