Frankreich-Wahl: Linksbündnis überraschend stärkste Kraft

8 Jul 2024

Frankreich-Wahl

Überraschung bei der Parlamentswahl in Frankreich: Das links-grüne Wahlbündnis ist nach der zweiten Runde zur stärksten Kraft geworden. Die Rechtspopulisten von Marine Le Pen, die auf eine absolute Mehrheit gehofft hatten, rutschten auf den dritten Platz – hinter das Regierungslager von Präsident Emmanuel Macron. Das Linksbündnis stellte unmittelbar nach den ersten Prognosen den Regierungsanspruch. Premier Gabriel Attal will am Montag seinen Rücktritt einreichen.

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Foto ORF

Online seit gestern, 20.10 Uhr (Update: heute, 6.20 Uhr)

Das vom Linkspopulisten Jean-Luc Melenchon angeführte Bündnis Nouveau Front populaire (NFP) holte 182 der 589 Sitze in der Nationalversammlung. Der rechtspopulistische Rassemblement National (RN) landete mit 143 Sitzen auf dem dritten Rang hinter dem Präsidentenbündnis Ensemble mit 168 Sitzen.

Bisher hatte das Macron-Lager eine relative Mehrheit von 250 Sitzen in der Nationalversammlung, der RN 88. Keiner der drei zur Wahl angetretenen großen Blöcke kommt nun auf eine zum Alleinregieren ausreichende Mehrheit – im Parlament droht damit ein Patt.

Anhänger feiern Wahlsieg von Linksbündnis

Frankreich hat gewählt. Die Wahlbeteiligung war so groß wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr – stärkste Kraft wurde überraschend ein kurz vor der Wahl gegründetes Linksbündnis. Auf den Straßen von Paris feierten Anhängerinnen und Anhänger den Wahlsieg.

„Wir haben gewonnen“

Das links-grüne Wahlbündnis hat bereits kurz nach Veröffentlichung der ersten Prognosen den Anspruch auf die Regierungsbildung erhoben. Der NFP sei bereit zum Regieren, sagte der frühere Parteichef der linkspopulistischen Partei La France insoumise (LFI), Jean-Luc Melenchon, in Paris. Sozialisten-Chef Olivier Faure sprach sich zudem gegen eine mögliche „Koalition“ mit dem Regierungslager aus.

„Wir haben gewonnen, und jetzt werden wir regieren“, sagte Grünen-Generalsekretärin Marine Tondelier, die gleichzeitig von einem „schönen Sieg der Demokratie“ sprach. Die hohe Wahlbeteiligung belege Tondelier zufolge, wie wichtig den Menschen die Parlamentswahl gewesen sei. Zudem erinnerte sie daran, dass das neue Linksbündnis erst vor vier Wochen von Grünen, Sozialisten, Kommunisten und der Linkspartei aus der Taufe gehoben worden sei.

Frankreichs Premier Gabriel Attal will am Montag seinen Rücktritt einreichen Attal kündigt Rücktritt an

Premier Attal kündigte nach der Wahlschlappe des Regierungslagers seinen Rücktritt an. „Gemäß der republikanischen Tradition und meinen Prinzipien entsprechend reiche ich morgen meinen Rücktritt beim Präsidenten ein“, sagte er am Sonntag in Paris. Es steht dem Präsidenten offen, den Rücktritt anzunehmen oder nicht. Macron hatte Attal erst im Jänner zum Premierminister ernannt. Mit 34 Jahren wurde er der jüngste Premier in der jüngeren französischen Geschichte.

Macron zeigte sich in einer ersten Reaktion abwartend. „Die Frage ist, wer regieren und wer eine Mehrheit bilden kann“, hieß es am Sonntag im Elysee-Palast. Gemäß der republikanischen Tradition werde Macron die Struktur der neuen Nationalversammlung abwarten, bevor er Entscheidungen treffe.

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Ergebnis entgegen den Umfragen

Das Wahlergebnis ist eine große Überraschung. Nach der ersten Wahlrunde vor einer Woche sahen Prognosen den RN noch knapp unter der absoluten Mehrheit und damit möglicherweise in der Lage, die nächste Regierung zu stellen. Der Rechtsruck fällt nun geringer aus als erwartet.

Am 30. Juni wurden 76 Mandate der insgesamt 577 Sitze der Nationalversammlung vergeben. In 501 Wahlkreisen kam keiner der Kandidatinnen und Kandidaten auf die beim ersten Durchgang notwendige absolute Mehrheit. In mindestens 50 Wahlkreisen wurde bei der Stichwahl mit einem sehr knappen Wahlausgang gerechnet.

Primosch (ORF) zum Wahlergebnis

ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch erklärt, wie es zu dem überraschenden Wahlergebnis in Frankreich gekommen ist.

Die Linke und das Mitte-Lager hatten in der Stichwahl auf Wahlkreisebene Absprachen getroffen, um nach dem Rechtsruck in der ersten Runde einen Durchmarsch des RN zu verhindern.

Le Pen: Macrons Situation „unhaltbar“

Ernüchterung gibt es beim RN. Man habe die Wahl nur aufgrund taktischer Abstimmungen zwischen dem Linksbündnis und Macrons Lager verloren, so Le Pen in einer ersten Reaktion. Macron befinde sich laut Le Pen nun aber auch in einer „unhaltbaren“ Situation. „Unser Sieg wurde lediglich verzögert“, sagte sie.

Parteichef Jordan Bardella hatte zuvor eine „verstärkte“ Oppositionsarbeit angekündigt. Frankreich sei nach dem Scheitern seiner Partei bei der französischen Parlamentswahl „in die Hände der extremen Linken geworfen“ worden, so Bardella.

Parteichef Jordan Bardella trat rund eine Stunde nach Wahlschluss vor die Öffentlichkeit Viele offene Fragen

Mit dem Ergebnis ergeben sich verschiedene Szenarien. Die Linken könnten versuchen, von den Mitte-Kräften Unterstützung zu bekommen – entweder als Minderheitsregierung mit Duldung oder in einer Art Großen Koalition. Angesichts der gegensätzlichen politischen Ausrichtungen ist derzeit schwer abzusehen, ob das gelingen könnte.

Unklar ist, ob Präsident Macron in einem solchen Szenario politisch gezwungen wäre, einen Premier aus den Reihen der Linken zu ernennen. Die Nationalversammlung kann die Regierung stürzen. Bei einem Premier aus dem linken Lager müsste Macron die Macht teilen. Sollte keines der Lager eine Regierungsmehrheit finden, könnte die aktuelle Regierung als Übergangsregierung im Amt bleiben bzw. eine Expertenregierung eingesetzt werden.

Rückzug von über 200 Kandidaten

Macron hatte die Neuwahl überraschend nach dem Triumph des RN bei der Europawahl am 9. Juni ausgerufen. In der ersten Runde der Parlamentswahl am vergangenen Sonntag kam Marine Le Pen mit ihrem RN auf 29 Prozent bzw. zusammen mit Verbündeten auf 33 Prozent und damit auf den ersten Platz.

Das Linksbündnis kam auf 28 und Macrons Mitte-Lager auf 20 Prozent. Der Schock darüber lag bei den Unterlegenen tief, sie formten ein lagerübergreifendes Zweckbündnis, damit der RN in der zweiten Runde die absolute Mehrheit verpasst. Mehr als 200 Kandidatinnen und Kandidaten zogen sich in der Folge zurück.

ORF-Analyse: Die Folgen für Europa

Herrscht in Brüssel Erleichterung, dass der Rassemblement National in Frankreich nicht stärkste Kraft wurde? Frankreich steuert auf unsichere Zeiten zu, wie wird Berlin damit umgehen? Das und mehr analysieren die ORF-Korrespondenten Raffaela Schaidreiter in Brüssel und Andreas Pfeifer in Berlin.

Hohe Wahlbeteiligung

Das Interesse an der Wahl war groß: Um 17.00 Uhr lag die Beteiligung bei 59,71 Prozent, wie das Innenministerium in Paris mitteilte. 2022 lag der Wert zur gleichen Zeit bei 38,11 Prozent. Beim ersten Wahlgang vor einer Woche war die Beteiligung insgesamt bei 66,71 Prozent gelegen. Nach Angaben des Fernsehsenders BFMTV könnte es sich nun um die höchste Wahlbeteiligung seit 1997 handeln.

Bei Kundgebungen nach der Wahl kam es in Paris und anderen Städten zu Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. In Paris versammelten sich Tausende Menschen auf der Place de la Republique im Zentrum der Hauptstadt, um den Sieg des Linksbündnisses bei der vorgezogenen Wahl zu feiern.

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