Der Tod von Fethullah Gülen: Freund und Feind Erdoğans

10 Stunden vor

Lange Zeit haben sich die Gülen-Bewegung und die AKP unterstützt, bis ein Machtkampf zwischen den beiden Männern entbrannte. Die sektenartige Organisation des Predigers war ein schwer durchschaubares Konstrukt. Nun stellt sich die Frage nach der Nachfolge und der Zukunft der Bewegung.

Fethullah Gülen - Figure 1
Foto DiePresse.com

Der Aufstieg der AKP wäre ohne die Gülen-Bewegung kaum möglich gewesen. Seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 wird viel über die Organisation des Predigers Fethullah Gülen spekuliert, ohne dass sie eingehend durchleuchtet werden kann. Tatsächlich agiert die Anhängerschaft des Predigers seit Jahrzehnten klandestin und im Untergrund. Auch wird der Bewegung vorgeworfen, für die Putschnacht im Juli 2016 verantwortlich zu sein. Seither gilt die Gülen-Bewegung in der Türkei als Terrororganisation, bis heute sitzen Tausende Menschen wegen Verbindungen zur Bewegung in Haft.

Doch wer war Fethullah Gülen, der nun in den USA verstarb? Ein Geistlicher, den in der Vergangenheit viele säkulare Politiker skeptisch verfolgt, wiederum andere Politiker moralisch und tatkräftig unterstützt haben: Gülen wurde 1941 oder 1938 im ostanatolischen Erzurum geboren. In seinen Zwanzigern war er als Geistlicher und antikommunistischer Aktivist tätig, inspiriert von der Nurculuk-Bewegung des Geistlichen Said Nursi. Die Nurculuk-Bewegung lehnte den republikanischen Staat grundsätzlich ab und hatte die Re-Islamisierung der Türkei, ja, des Nahen Ostens zum Ziel. Immer wieder geriet sie ins Visier der laizistischen Gralshüter, aber ihre Vertreter arrangierten sich oft mit den politischen Parteien, die dadurch auf die Stimmen der religiösen Bevölkerungsschicht hofften.

Die Bewegung im Untergrund

Als Wanderprediger zog Gülen durch das Land. Seine Predigten sind emotional, theatralisch, er ist bekannt für plötzliche Tränenausbrüche während seinen Erzählungen. In dieser Zeit konnte er seine Basis in den religiös geprägten Gegenden stärken. Von der Nurculuk-Bewegung trennte sich Gülen jedoch bald. Er wolle die Republik als solches nicht bekämpfen, sagte er dann. Um mit den Anhängern Said Nursis nicht in Konflikt zu geraten, agierte Gülen im Untergrund.

Darüber hinaus war er den Hütern des Laizismus freilich immer ein Dorn im Auge: Sie waren überzeugt davon, dass das Ziel des Predigers die Einführung der Scharia war, auch wenn er das öffentlich negierte. So zog es Gülen vor, im Geheimen die Fäden für seine Bewegung zu ziehen. Bis heute bleibt die Gülen-Struktur undurchsichtig, allerdings gilt sie seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei als weitgehend zerschlagen. Doch während der AKP-Regierung, als die Anhänger des Predigers große Freiheiten genossen, blieb die religiöse Bewegung klandestin.

Die Verbindung Gülen-Erdoğan war eine Zweckgemeinschaft. Als der heutige Präsident noch nicht die große Macht besaß, hatte er die Nähe des Predigers gesucht, von dem bekannt war, dass er Land und Leute beeinflussen kann. Während Erdoğan also in der politischen Welt seinen Einfluss zementierte, unterstützte Gülen die AKP von unten. Warum die beiden zusammenarbeiteten? Ihre Ideale, ihre Ziele sind sich äußerst ähnlich, sie beide kommen aus der islamisch-konservativen Basis. Die einflussreichen Gülen-Medien haben in ihren Publikationen die AKP beinahe verherrlicht, AKP und Gülen-Kritiker hingegen wurden an den Pranger gestellt. Warum es zu einem Bruch zwischen den beiden mächtigen Männern kam, lässt sich nur erahnen.

Wahrscheinlich ist ein Machtkampf, der mit dem Korruptionsskandal im Jahr 2013, direkt nach den Protesten rund um den Istanbuler Gezi-Park, verdeutlicht werden kann. Gülen-nahe Ermittler warfen Erdoğan und seinem Umfeld vor, sich dank ihres politischen Einflusses persönlich bereichert zu haben. Mitschnitte von Telefonanrufen wurden ins Netz gestellt, Geschichten von Millionenbeträgen in Schuhkartons verbreitet, auch von fragwürdigen Goldgeschäften mit dem Iran war die Rede. Die AKP war derart erzürnt über die Ermittlungen, dass sie von da an die Gülenisten in die Enge trieb.

Moderates Auftreten

Nicht erst seit dem Putschversuch versucht die Erdoğan-Regierung, die ehemals befreundete Bewegung zu zerschlagen. Bereits nach Bekanntwerden der Korruptionsermittlungen gegen die AKP ließ die Regierung Tausende Justizbeamte entlassen – in der Justiz und der Polizei waren Anhänger Gülens besonders stark vertreten. In der Türkei gelten heute übrigens andere Orden und religiöse Bruderschaften als gestärkt und einflussreich, insbesondere die Menzil-Gemeinde.

Sein Netzwerk baute Gülen jedenfalls stetig aus. Bis Ende der 1990er-Jahre hatte er sich zu einer Art religiös-moralischer Institution hochgearbeitet. Er wurde von Politiker zu Politiker gereicht (auch von späteren AKP-Funktionären). Es war en vogue, sich mit ihm ablichten zu lassen. Zu dieser Zeit geriet Gülen auch stärker ins Visier der Justiz und des Nationalen Sicherheitsrates: Sein moderates Auftreten dürfe nicht über seine eigentlichen, islamistischen Ziele hinwegtäuschen, hieß es. Aus diesem Grund wurde ein Prozess gegen ihn eingeleitet und Gülen reiste 1999 in die USA – angeblich wegen einer Gesundheitstherapie. In Pennsylvania lebte er bis zuletzt.

»Man muss die Stellen im Justiz- und Innenministerium, die man in seine Hand bekommen hat, erweitern. Diese Einheiten sind unsere Garantie für die Zukunft. Die Gemeindemitglieder (...) sollten versuchen, die oberen Organe zu erreichen. Ohne euch bemerkbar zu machen, müsst ihr immer weiter vorangehen und die entscheidenden Stellen des Systems entdecken. (...) Diejenigen von uns, die sich in diesem Dienst befinden, müssen sich so wie ein Diplomat verhalten, als ob sie die ganze Welt regieren würden, und zwar so lange, bis sie diese Macht erreicht haben.«

Fethullah Gülen

In offenbar geheim mitgeschnittenen Reden wie diesen sahen die Ermittler damals Hinweise darauf, dass Gülen einen Umsturz plane, wie es in einer Studie des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2008 heißt. Tatsächlich sind Gülens Aussagen oft widersprüchlich, er äußert sich einmal so, einmal so. Damit wich er auch geschickt dem Label eines religiösen Extremisten aus.

Aussteiger berichten in Interviews von streng hierarchischen Strukturen. In den Studentenheimen leiten „Schwester“ und „Bruder“ genannte Führungspersönlichkeiten die Neuzugänge, sie begleiten sie in ihrem Alltag, bilden sie religiös weiter. Zu diesem Zweck finden auch „Sohbets“ statt, es sind regelmäßig stattfindende Unterhaltungen, wobei die Schriften und Reden Gülens weitergegeben werden. Überhaupt, schildert eine ehemalige Gülenistin, habe man nur die Zeitschriften der Bewegung konsumieren dürfen. In anderen Sitzungen würden Spendengelder gesammelt. Auch werde besprochen, wie man an wichtige Personen des öffentlichen Lebens herantreten und sie in ihrem Sinne positiv beeinflussen könne.

Gülenisten in der Emigration würden ausdrücklich ermutigt, Parteien beizutreten und Platz in den Strukturen der Staaten einzunehmen: Justiz, Gewerkschaft, aber auch in Nichtregierungsorganisationen. Hohe Anpassung wird von den Anhängern gefordert. Kein Kopftuch, wenn das nicht gut ankommt. Der Konsum von Alkohol, wenn das gut ankommt. Der Gülen-kritische Journalist Ahmet Şık vergleicht die Bewegung mit einer Weinrebe: die „Trauben“ sind einzeln organisiert, es gibt nur eine lose Verbindung zu anderen „Trauben“. Oftmals sind sich die Anhänger nicht mit vollem Namen bekannt, die Strukturen sind sehr konspirativ.

Ein finanzstarkes Firmenkonglomerat

Von den USA aus konnte der Prediger seine Bewegung weiter ausbauen, das Exil hat ihm keineswegs geschadet; vielmehr wurde sein Wirkungskreis internationaler – sein größtes Netzwerk soll sich heute in den USA befinden, auch in Zentralasien finden sich viele Gülenisten, in Europa, vor allem in Deutschland, bestehen ebenfalls verzweigte Strukturen. Wie viele Anhänger Gülen hat, lässt sich kaum sagen, die Bewegung hat keine offizielle Mitgliedschaft. Der amerikanischen Soziologin Helen Rose Ebaugh zufolge sind bzw. waren zwischen zehn und 15 Prozent der türkischen Gesellschaft von Gülen beeinflusst. Sicher ist jedenfalls: Die Menschen erreichte der Prediger in seiner Anfangszeit über ein weit verzweigtes Schulsystem, anschließend kamen große Medienhäuser dazu. Das System Gülen wurde zu einem finanzstarken Firmenkonglomerat samt Banken und Dienstleistungen.

Blick auf die Residenz von Gülen in Saylorsburg, Pennsylvania (c) REUTERS (� Reuters Staff / Reuters)

Gülens Schulen füllten in der Türkei eine Lücke aus, die zwischen Gymnasium und Universität besteht. Die Aufnahmeprüfungen für die Universität sind durchaus umfangreich, oftmals werden die Schulabgänger nicht ausreichend darauf vorbereitet. In Gülens Nachhilfeinstituten wurden abertausende Schüler auf diese Prüfungen getrimmt, und zwar nicht nur von religiösen Familien. Ärmere Kinder wurden parallel dazu in Wohnhäusern aufgenommen, die über Spenden finanziert wurden. Freilich wurden die betroffenen Schüler im Sinne von Gülen beeinflusst, eine Art Abhängigkeit entstand. Das logische nächste Ziel: Sie sollten ihrerseits Anhänger rekrutieren. Die Gülenisten fassen ihr Wirken als "Hizmet" zusammen: Dienst, im Sinne von Dienst an der Gesellschaft.

Die Frage nach der Nachfolge

Am Sonntagabend verstarb Gülen in einem Krankenhaus in den USA. Experten gehen davon aus, dass sein Tod die Gülen-Bewegung empfindlich treffen wird, zumal rund um seine Person ein regelrechter Kult entstanden war. Zudem gilt die Bewegung, wie erwähnt, in der Türkei als zerschlagen. Seit dem gescheiterten Putsch haben die Gülenisten auch nicht mehr die einstigen finanziellen Möglichkeiten. Über die türkischen Gülen-Publikationen hat Ankara längst die Kontrolle erlangt, im Ausland gibt es jedoch zahlreiche Medien und auch Journalisten, die als Gülen-nah gelten und die mit ihren investigativen Recherchen bisweilen die AKP-Regierung vorgeführt haben. Auch die früheren Gülen-Schulen in der Türkei sind heute staatlich kontrolliert, doch werden noch zahlreiche Bildungsinstitutionen im Ausland betrieben – beginnend von den USA bis hin nach Zentralasien und Afrika.

Über die Gülen-Nachfolge gibt es viele Spekulationen. Angeblich hat Gülen vor seinem Tod eine Art Kommission, bestehend aus zehn bis 20 Personen, bilden lassen, die nun die „Geschäfte“ übernehmen sollen. Doch ein Weiterbestand der Gülen-Bewegung, die von mehreren Personen geleitet wird, dürfte langfristig schwierig werden. Prinzipiell gibt es trotz der Schwächung der Bewegung weltweit noch viele Anhänger und auch Unternehmen, die der Bewegung eben nahestehen. Die große Frage wird aber sein, wer die geistliche Nachfolge antreten soll, und damit steht und fällt die Frage nach der Zukunft der Bewegung. Es fällt zum Beispiel der Name von Mustafa Özcan, einem Gülen-Vertrauten, der sich um die wirtschaftliche Belange gekümmert hat, aber nicht als Prediger aufgefallen ist. Ein weiterer Name ist Abdullah Aymaz, der die Bewegung in Europa koordiniert und auch predigt.

Sollte er die Bewegung „übernehmen“, ist Experten zufolge ein Fokus auf Europa zu erwarten. Somit bestehe auch die Gefahr, dass sich die Bewegung in den USA loslöst – und sich die Bewegung im Exil überhaupt in ihren regionalen Gruppen neu strukturiert und orientiert. Ohne Gülen als Identifikationsfigur dürfte die internationale Koordination schwer werden, denn man darf nicht vergessen: Die Gülen-Bewegung ging über eine klandestine, religiöse Bewegung hinaus, sie war kultartig. Und in den letzten Jahren gab es auch interne Streitigkeiten, die teilweise offen ausgetragen wurden. Darüber hinaus gilt: Gülen hat zwar viel publiziert und Videos produziert, seine geistlichen Lehrern verbreitet, allerdings fehlt eine Art Grundsatzwerk, auf die sich die Bewegung stützen könnte.

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