Der 3:0-Sieg des FC Bayern gegen den FC Augsburg an diesem bitterkalten Freitagabend im November hat aus Münchner Sicht mehrere schöne Geschichten geschrieben.
Da wäre die Geschichte des Harry Kane, der zum vierten Mal in dieser Saison drei oder mehr Treffer in einem Spiel geschossen hat und nach 17 Pflichtspielen nun schon bei 20 Toren steht. Da wäre auch die Geschichte der beeindruckend stabilen Defensive, die gegen (ein beeindruckend ungefährliches) Augsburg nichts zuließ und zum sechsten Mal hintereinander die Null hielt.
Und dann wäre da noch die Geschichte des Leon Goretzka. Nach wochenlangem Reservistendasein ist er plötzlich wichtig. Und jetzt wo er plötzlich wichtig ist, überzeugt er gegen Augsburg auch prompt.
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Im Sommer wollte die Klubführung um Sportvorstand Max Eberl den 29-jährigen Mittelfeldspieler unbedingt verkaufen. Sie störte sich an einer problematischen Mischung: hier Goretzkas rapide gesunkener Stellenwert, dort sein hochdotierter Vertrag. Jährlich soll er 17 Millionen Euro kassieren, womit er zu den Topverdienern in der Mannschaft gehört. Goretzka aber beharrte auf eben diesen bis 2026 laufenden Vertrag, schlug sämtliche Wechselchancen aus und hoffte auf bessere Zeiten.
Zu Saisonbeginn waren Joshua Kimmich und Aleksandar Pavlovic im defensiven Mittelfeld gesetzt. Goretzka spielte kaum, zweimal fehlte er sogar gänzlich im Spieltagskader. Von einer sogenannten "Höchststrafe" spricht man in so einem Fall.
Im Oktober brach sich Pavlovic aber das Schlüsselbein, woraufhin Sommer-Neuzugang João Palhinha in die Startelf rückte. Goretzka wurde nun regelmäßig eingewechselt. Vor zwei Wochen gegen den FC St. Pauli durfte er sogar erstmals beginnen, enttäuschte aber. Dann riss sich Palhinha bei der Nationalmannschaft ein Muskelbündel an den Adduktoren. Weil Kompany die einzigen beiden Alternativen Raphael Guerreiro und Konrad Laimer rechts hinten sieht, ist Goretzka plötzlich gesetzt.
Gegen Augsburg absolvierte er sein erstes Spiel als Interims-Stammspieler und präsentierte sich wie zu besten Zeiten. Mehrmals sorgte er am gegnerischen Strafraum für Gefahr, etwa mit zwei Distanzschüssen und einem Lattenkopfball. Mehrmals klärte er stark, etwa mit einem Tackling in Minute 16. Er spielte gute Pässe und zur Krönung bereitete er mit einer Flanke Harry Kanes Treffer zum 3:0 vor.
Pavlovic und Palhinha fehlen noch länger, Goretzka dürfte seinen Platz also erstmal sicher haben - auch bei den nun anstehenden Topspielen in der Champions League gegen Paris Saint-Germain, in der Bundesliga gegen Borussia Dortmund und im DFB-Pokal gegen Bayer Leverkusen.
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"Die Geschichte ist schön", sagte Kompany und hob ebendiese Geschichte, die für den Trainer nicht nur von Goretzka handelt, mit einer ausführlichen Erklärung direkt auf eine Metaebene:
"In einem Kader gibt es immer Spieler, die das Gefühl haben, es ist schwer für mich. Dann bist du als Spieler natürlich nicht glücklich. Aber was machst du dann? Leon hat in diesem Moment sehr hart gearbeitet, hat wie ein Top-Profi trainiert, alles gemacht, um zu zeigen, dass er die Qualitäten hat und auf seine Chance gewartet." Und genutzt! Also: "In dieser Geschichte geht es nicht nur um Leon. Es gibt wahrscheinlich noch Spieler, die jetzt im Moment nicht spielen, aber später in der Saison wichtig werden. Es geht darum, dass die anderen wissen: Vielleicht ist irgendwann auch mein Moment."
Kompany scheint Goretzkas Geschichte durchaus gelegen zu kommen. Der eigentlich Aussortierte soll jenen Spielern als Vorbild dienen und Hoffnung machen, die im Konkurrenzkampf mit übermächtigen Rivalen aktuell chancenlos wirken. Etwa die Ersatzkeeper Sven Ulreich und Daniel Peretz hinter Kapitän Manuel Neuer. Oder Eric Dier hinter der eingespielten Innenverteidigung bestehend aus Min-Jae Kim und Dayot Upamecano. Oder Mathys Tel hinter Torjäger Harry Kane.
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Trotz seiner plötzlichen Wichtigkeit und trotz seiner willkommenen Vorbildrolle soll sich aber nichts am Bestreben des FC Bayern geändert haben, Goretzka schnellstmöglich zu verkaufen. Laut Sky streben die Münchner einen Transfer im Winter, spätestens aber im Sommer an.
Dem Bericht zufolge habe sich Goretzka damit auch schon abgefunden. Vor wenigen Tagen schloss er sich der Berateragentur Roof an, durchaus ein Zeichen für einen bevorstehenden Transfer. Hartnäckig wird er mit diversen Premier-League-Klubs in Verbindung gebracht. Roof ist vor allem in England gut vernetzt.
Ob Goretzka in der Rückrunde noch beim FC Bayern spielt, wurde Eberl nach dessen starken Auftritt gegen Augsburg gefragt. "Ich verstehe diese ganzen Nachfragen nicht", wich der Sportvorstand aus. "Wir haben relativ klar im Sommer mit dem Jungen gesprochen. Er hat sich entschieden zu bleiben. Wir haben seit dem 1. September nichts anderes gesagt, als dass er ein volles Mitglied dieses Kaders ist."
Aber wie lange noch? "Was die Zukunft bringt, das werden wir wieder mit dem Jungen besprechen und dann öffentlich bekanntgeben. Leon ist für uns ein totales Mitglied dieser Mannschaft", sagte Eberl. Aktuell sei man "froh, dass er da ist" und gegen Augsburg habe er es auch "sehr, sehr ordentlich gemacht". Mit weiteren starken Auftritten bei den anstehenden Topspielen könnte Goretzka die Klubführung womöglich nochmal ins Grübeln bringen - oder zumindest die Ablöse in die Höhe treiben.