Zwischenspurt bei Zinssenkungen: EZB reduziert ausserplanmässig ...

Eigentlich wollte die Notenbank die nächste Zinsreduktion in diesem Jahr erst im Dezember vornehmen. Zwei Entwicklungen haben die Währungshüter dazu veranlasst, die Geldpolitik schneller zu lockern.

EZB-Zinssenkung - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Sonnenschein über der EZB-Zentrale in Frankfurt: Im Euro-Raum liegt die Inflationsrate wieder im mittelfristigen Zielbereich der Notenbank.

Florian Wiegan /Imago

Wie schnell sich die Zeiten doch ändern: In der Europäischen Zentralbank (EZB) hat es in den vergangenen Wochen einen erheblichen Stimmungswandel gegeben. Im Anschluss an die Sitzung Mitte September hatten Präsidentin Christine Lagarde und weitere Mitglieder des EZB-Rates noch signalisiert, dass die nächste Zinssenkung voraussichtlich im Dezember stattfinden dürfte. Davon ist der Rat abgekehrt und hat am Donnerstag mit einer weiteren Reduktion der Leitsätze den Zinssenkungszyklus beschleunigt.

Die Teuerung im Euro-Raum sinkt auf 1,8 Prozent

Die Notenbank reduzierte die Zinsen zum dritten Mal seit Juni um 0,25 Prozentpunkte, wobei sie im Juli eine Pause eingelegt hatte. Der derzeit für die Geldpolitik massgebliche Einlagensatz notiert nun bei 3,25 Prozent. Die beiden anderen Zinssätze, der Hauptrefinanzierungssatz und der Spitzenrefinanzierungssatz, liegen bei 3,4 und 3,65 Prozent.

Das Treffen der Ratsmitglieder fand ausnahmsweise nicht in Frankfurt, sondern im slowenischen Ljubljana statt. Einmal im Jahr tagt die EZB in einem der Mitgliedsstaaten anstatt am deutschen Hauptsitz.

Vor allem zwei Gründe haben die EZB zum Zwischenspurt bei den Zinssenkungen veranlasst. Die gegenwärtigen Daten zur Inflation würden zeigen, dass der Disinflationsprozess gut voranschreite, und die Inflationsaussichten würden zudem durch schwächer als erwartet ausgefallene Konjunkturindikatoren beeinflusst, hiess es von der Notenbank. Die Finanzierungsbedingungen in der Euro-Zone seien für Privatpersonen und für Unternehmen unterdessen restriktiv geblieben.

Die Inflation in der Euro-Zone insgesamt und in grossen Mitgliedstaaten ist jüngst schneller zurückgegangen als zuvor erwartet worden war. Im Euro-Raum notierte die Teuerung im September laut der Statistikbehörde Eurostat bei 1,7 Prozent, nach 2,2 Prozent im August. Damit liegt die Inflationsrate wieder unterhalb des Zielwertes der Notenbank von mittelfristig 2 Prozent.

In Deutschland, dem grössten Mitglied der Währungsunion, ist die Teuerung von 2,0 auf 1,8 Prozent gesunken. Auch in Spanien und Frankreich notierte die Inflationsrate im September deutlich unter 2 Prozent, in Italien sogar unter 1 Prozent. Am höchsten ist die Teuerung noch in Belgien und den Niederlanden mit 4,3 und 3,3 Prozent.

Frühindikatoren deuten auf Stagnation oder Rezession

Der andere Grund für den Stimmungsumschwung im EZB-Rat war das sich eintrübende Wirtschaftsbild im Euro-Raum. Einige konjunkturelle Frühindikatoren haben in den vergangenen Wochen überraschend deutlich nachgegeben. Das betraf beispielsweise die Einkaufsmanagerindizes für den Euro-Raum und den Ifo-Index für Deutschland, der zum vierten Mal in Folge gesunken ist. Das Land steckt seit Jahren in einer massiven industriellen Flaute.

Ökonomen erwarten für die Euro-Zone in den kommenden Monaten eine Stagnation oder sogar eine milde Rezession. Auf dem Arbeitsmarkt spiegelt sich das zwar noch nicht, denn die Arbeitslosenquote liegt weiterhin auf einem rekordtiefen Niveau. Doch inzwischen haben vor allem in Deutschland viele Industriebetriebe Entlassungen angekündigt. Damit könnte sich der bisherige Trend abschwächen, dass Unternehmen wegen des allgemeinen Arbeits- und Fachkräftemangels dazu neigen, Arbeitskräfte sozusagen zu horten, obwohl sie kurz- und mittelfristig vielleicht mit weniger Personal auskommen könnten.

Die Zinssenkung kam nicht völlig überraschend. Sie hatte sich aufgrund der Entwicklungen bei der Inflation und der Konjunktur sowie von Äusserungen verschiedener EZB-Ratsmitglieder angedeutet. An den Finanzmärkten war zuletzt sogar fest mit der neuerlichen Zinssenkung gerechnet worden. Das gilt umso mehr, als die EZB an jeder der vergangenen Sitzungen betont hatte, dass sie ihre Zinspolitik anhand der eintreffenden Wirtschaftsdaten ausrichten wird.

In den kommenden Monaten dürfte die Inflation laut EZB zwar wieder anziehen. Im Lauf des nächsten Jahres würde sie jedoch auf den Zielwert zurückgehen. Die Binneninflation sei weiterhin hoch, weil die Löhne im Euro-Raum nach wie vor in einem erhöhten Tempo anstiegen, teilte die Notenbank mit. Zugleich werde sich der Teuerungsdruck durch die Arbeitskosten wohl weiterhin allmählich abschwächen.

Die EZB hat auch die geopolitischen Risiken im Blick

Die Marktteilnehmer diskutieren nun weiter vor allem darüber, ob die neuerliche Zinssenkung wirklich nur ein Zwischenspurt war oder doch der Start einer andauernden Beschleunigung des Zinszyklus. Inzwischen gehen viele Bankökonomen davon aus, dass die EZB entweder im Früh- oder Spätsommer 2025 das neutrale Zinsniveau erreichen wird, bei dem die Leitzinsen die Wirtschaft weder bremsen noch stimulieren.

Dieses neutrale Niveau kann man nicht messen, sondern nur schätzen. Ökonomen verorten es derzeit für die Euro-Zone bei etwa 2 bis 2,5 Prozent. Die Geschwindigkeit der Zinssenkungen dürfte auch künftig stark von den eintreffenden Wirtschaftsdaten abhängen sowie von der Entwicklung des politischen und geopolitischen Umfeldes.

Je nach Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl Anfang November könnte sich beispielsweise die Gefahr von Handelskriegen verschärfen. Darüber hinaus scheint es jederzeit möglich, dass der Krieg im Nahen Osten zwischen Israel und seinen Feinden eskaliert. Das könnte einen deutlichen Anstieg des Erdölpreises zur Folge haben, was die Teuerung tendenziell anheizen würde. Dann müsste die EZB das Tempo der Zinssenkungen wohl wieder drosseln.

Die Notenbank wies am Donnerstag einmal mehr darauf hin, dass die Festlegung der angemessenen Höhe der Zinsen und der Dauer des restriktiven Niveaus durch den EZB-Rat auch in Zukunft von der Datenlage abhängen und von Sitzung zu Sitzung erfolgen werden.

Sie können dem Frankfurter Wirtschaftskorrespondenten Michael Rasch auf den Plattformen X, Linkedin und Xing folgen.

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