Mohammad Rasulofs Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“
In Mohammad Rasulofs Film „Manuscripts Don’t Burn“ von 2013 gibt es eine Szene, die keiner, der sie gesehen hat, wieder vergessen wird. Zwei Auftragskiller des iranischen Regimes sind auf der Jagd nach oppositionellen Schriftstellern. Einen spüren sie in seiner Wohnung in Teheran auf. Der stärkere der beiden Killer packt den schwer herzkranken Mann von hinten. Dann zieht er ihm die Hose herunter und schiebt ihm das Insulin-Zäpfchen, das ihn töten wird, in den Anus. Während der Tat redet er beruhigend auf den anderen ein: Er solle stillhalten, Widerstand sei sinnlos, mit Ungeziefer wie ihm werde jetzt aufgeräumt. Der Mörder wartet geduldig ab, bis sein Opfer das Bewusstsein verloren hat, dann lässt er den Mann zu Boden gleiten.
Im Grunde kreisen alle Filme Rasulofs seit zwanzig Jahren um diese Urszene. Das Regime hat die Menschen, die sich ihm widersetzen, im Würgegriff, und jetzt kommt es darauf an, ob sie sich wehren oder nicht. In „A Man of Integrity“ ist es ein Fischzüchter, der gegen die allgegenwärtige Korruption aufbegehrt, in „Auf Wiedersehen“ eine Rechtsanwältin, die Regierungsgegner verteidigt. In „Doch das Böse gibt es nicht“, dem Film, mit dem Rasulof 2020 den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen hat, weigert sich ein Soldat, ein Todesurteil zu vollstrecken. Ein anderer befolgt den Befehl und zahlt dafür mit seinem privaten Liebesglück. Sie sind zwei Seiten desselben Unheils. Henker und Deserteur. Die Macht und ihr Feind.
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In Rasulofs neuem Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ sind die Macht und ihre Feinde Mitglieder derselben Kleinfamilie. Iman ist seit zwanzig Jahren Staatsanwalt am Teheraner Revolutionsgericht. Jetzt wird er zum Ermittlungsrichter befördert. Um seinen Aufstieg zu feiern, lädt er seine Frau Najmeh und seine Töchter Rezvan und Sana in ein Restaurant. Die Mädchen, die sich ein Zimmer teilen, sind begeistert, als er ihnen eine größere Wohnung in Aussicht stellt. Aber ihre Mienen verfinstern sich, als Najmeh ergänzt, in Zukunft dürften sie wegen der neuen Stellung ihres Vaters nur noch mit Hidschab unter Leute gehen und müssten ihre Profile aus den sozialen Medien löschen.
Es ist der Vorabend der jüngsten Protestbewegung in Iran, der Massendemonstrationen nach dem Tod der Studentin Jina Mahsa Amini in Untersuchungshaft. Im Herbst 2022 gingen Hunderttausende auf die Straße, um den Polizeimord an Amini und die Terrorherrschaft der Mullahs und der Revolutionsgarden anzuprangern. Mohammad Rasulof hat die Proteste vom Gefängnis aus verfolgt. Bereits im April war er zu einem Jahr Haft verurteilt worden, weil er eine Petition gegen Polizeigewalt unterzeichnet hatte – seine vierte Gefängnisstrafe in zwölf Jahren.
In der Haft kam ihm dann auch die Idee zu seinem Film. Während der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen, erzählt Rasulof, habe ihm ein Angestellter des berüchtigten Evin-Gefängnisses von seinen Gewissensqualen und dem Druck aus seiner Familie berichtet. Der Mann habe davon geträumt, sich eines Tages vor dem Gefängnistor zu erhängen. Diese Geschichte wollte er mit der Kamera erzählen.
Der Druck in Imans Familie steigt erst ganz langsam und dann sehr schnell. Da ist Sadaf, eine Freundin seiner Töchter, die bei den Rezvan und Sana übernachtet und ihnen Videos von den Protesten zeigt. Najmeh, die Mutter, mag das fremde Mädchen nicht, und die Demonstranten hält sie für Gotteslästerer. Aber dann kommt ein Hilferuf von Sadaf über das Smartphone. Die Töchter holen sie ab und bringen sie in die Wohnung. Ein Polizist hat ihr mit Schrotkugeln ins Gesicht geschossen. Die Mutter, die als Krankenschwester gearbeitet hat, holt ihr die Kugeln eine nach der anderen aus der aufgerissenen Haut. Es ist der Moment, in dem sich in der Seele Najmehs, dem stillen Zentrum des Films, etwas bewegt, und Rasulof, sein Kameramann Pooyan Aghababaei und seine großartige Hauptdarstellerin Soheila Golestani zeichnen diese Bewegung mit aller diskreten Meisterschaft nach, zu der das Kino fähig ist, mit Blicken, Gesten, geflüsterten Worten, die einen Stein rühren könnten.
Und da ist die Pistole, die Iman von seinen Vorgesetzten ausgehändigt bekommt, um sich in seinem neuen Amt verteidigen zu können. Zuerst steckt er sie wie ein amerikanischer Mobster in seinen Hosenbund. Dann legt er sie in seine Nachttischschublade. Später, als er jeden Tag Hunderte von Todesurteilen unterzeichnen muss, ohne die Anklage prüfen zu dürfen, versteckt er sie zwischen der Wäsche seiner Frau. Und irgendwann ist sie weg.
Zu diesem Zeitpunkt hat die verletzte Studentin Sadaf die Wohnung der Familie längst wieder verlassen; es heißt, sie sei im Gefängnis. Doch im Leben des Ermittlungsrichters wird nichts mehr heil. Die verschwundene Dienstpistole kann ihn seinen Job kosten. Also werden Najmeh und ihre beiden Töchter ins Untersuchungsgefängnis gebracht. Mit verbundenen Augen, die verhörenden Beamten im Rücken, sitzen sie in der Zelle. Keine der drei gesteht. Stattdessen macht Imans Privatadresse im Internet unter Regimegegnern die Runde. Auf der Straße wird er von Unbekannten verfolgt. Seine Wohnung ist keine Zuflucht mehr. Der Terror kann seine Helfershelfer nicht schützen.
Mit dieser Wendung dringt die Metapher des Filmtitels endgültig in die Bilder ein. Der heilige Feigenbaum, Ficus religiosa, ist ein Parasit, dessen Samen im Vogelkot auf die Blätter anderer Bäume gelangen und von dort Luftwurzeln treiben, bis sie den Boden erreichen, hat uns Rasulof am Anfang erklärt. Dann umschlingen die Äste des Feigenbaums den Wirt, bis sie ihn erwürgt haben. So umschlingt das System des Gottesstaats den Richter Iman und seine Familie. Es wickelt sich immer dichter um ihr Leben, und die Kamera hält diesen Vorgang so präzise fest, wie ein Biologe ein Naturschauspiel dokumentiert.
Das Regime verurteilte ihn zu acht Jahren Haft und Peitschenhieben
Die Handlung des Films spiegelt sich in seiner Produktionsgeschichte. Da er mit Berufsverbot belegt war, musste Rasulof „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ im Verborgenen drehen, mit kleinem Team und einer verschworenen Gemeinschaft von Schauspielern; seine Regieanweisungen gab er per Funk, aus einem Nebengebäude, von einem Autositz oder aus einem Kofferraum. Dem Film sieht man nichts davon an. Aber man sieht, warum das iranische Regime Rasulof so sehr hasst, dass es ihn noch während der Dreharbeiten zu acht Jahren Gefängnis mit Peitschenhieben verurteilte und seine Crew und die Darsteller nach der Ankündigung der Premiere in Cannes vom Geheimdienst bedroht und verhört wurden.
Denn Rasulof hat sich nie eine Demutsgeste gegenüber den schiitischen Machthabern erlaubt, und in diesem Film ist sein Blick kompromissloser denn je. Er zieht die Zügel des Unheils straff, bis es nur noch eine mögliche Richtung für die Geschichte gibt, und man kann nur froh sein, dass ihm selbst in einer vierwöchigen Odyssee die Flucht aus Teheran nach Deutschland gelungen ist; sonst säße er abermals im Evin-Gefängnis und müsste um sein Leben fürchten.
Nach der bürgerlichen Existenz wird auch die Kindheit zerstört
Der letzte Akt des Films spielt in einer Ruinenstadt in den Bergen und in dem Haus, in dem Iman aufgewachsen ist. Es gibt Kritiker, die dem Regisseur diesen Schauplatzwechsel und die damit verbundene Zuspitzung des Dramas vorgeworfen haben, aber für das, was Rasulof erzählen will, ist der Sprung aus der Metropole aufs Land nur konsequent: Auf die Zerstörung der bürgerlichen Existenz folgt die Zerstörung der Kindheit.
Jetzt kommt auch die Pistole, deren Verschwinden den Zerfall der Familie beschleunigt hat, wieder ins Spiel, und als Iman versucht, sein Elternhaus in ein privates Zuchthaus zu verwandeln, ist sein Schicksal besiegelt. Aber die Meisterschaft, mit der Rasulof diese Tragödie filmisch ausbuchstabiert, sorgt dafür, dass man bis zum Ende auf ihre Auflösung gespannt ist. Man zittert mit den Guten wie mit dem Bösen. Das Böse nämlich, das wissen wir spätestens seit Rasulofs letztem Film, gibt es in Wahrheit nicht. Es gibt nur die Feigheit und den Mut.
Dass „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ als deutscher Kandidat für den Auslands-Oscar antritt, ist für das hiesige Kino ein Zeichen der Schwäche und der Stärke zugleich. Einen Film wie diesen nämlich haben wir von einem deutschen Regisseur lange nicht mehr gesehen. Aber jetzt haben wir ja Mohammad Rasulof. Möge er gewinnen, was kein anderer hierzulande verdient.