"Der Freischütz": Wenn das zeitgenössische Regietheater mit sich ...

20 Jul 2024

Die Bregenzer Festspiele haben mit Philipp Stölzls Neuinszenierung des "Freischütz" begonnen. Und Stölzl macht Carl Maria von Webers Oper zum barocken Welttheater.

Der Freischütz - Figure 1
Foto ZEIT ONLINE

19. Juli 2024, 13:01 Uhr

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Ein fetter Mond schwebt über der Szenerie: "Der Freischütz" in der Bregenzer Bodenseeversion. © Anja Köhler/​Bregenzer Festspiele

Aus dem handwarmen See reckt sich ein Eisberg, garniert mit windschiefen Hütten und einem Kirchturmfragment. Ein fetter Mond schwebt darüber, beleuchtet glitschige Schollen, und das Boot von der Wasserschutzpolizei hält respektvollen Abstand davon, die surreale Szenerie bewachend, den kälteklirrenden Hartschaum und den Mond, viel größer als die untergehende Sonne – gleich tritt auch noch ein roter Springteufel auf. Die ersten Takte Freischütz-Ouvertüre nutzen die Zuschauer, um sich sehr romantisch zu fühlen. Das Wetter lädt dazu ein; alles ist perfekt. Damit sind die Festspiele von Bregenz in diesem Jahr eröffnet.

Im Freischütz von Carl Maria von Weber dreht sich eigentlich alles um die Natur, um ihre geheimen, bedrohlichen Kräfte, aber auch um die richtige, die aufrichtige Liebe, um Mädchen mit Blumen im Haar und Jungs im grünen Wams. Es ist die Erfolgsoper des 19. Jahrhunderts, das Beste der Romantik, so richtig, richtig deutsche Musik. Der Freischütz brachte die ersten echten Welthits auf den Markt, ist also Prä-Pop. Diese Oper kann man mitsummen, ein bisschen skurril finden oder visionär, weil sie ums gestörte Naturgleichgewicht kreist. Nach zwei Stunden ist sie auch wieder vorbei, ohne schwerste Erschütterungen im Gemüt zu hinterlassen. Nicht einmal Richard Wagner hatte etwas gegen sie einzuwenden.

Der Regisseur dieser Inszenierung auf der Bregenzer Seebühne hat auch nichts gegen den Freischütz. Ganz im Gegenteil, mit Lust holt er alles aus ihm heraus, was an Spektakulärem und Filmhaftem in ihm steckt. Philipp Stölzl dreht seine Version ins Künstliche, was ja im Fantastischen des Stückes schon angelegt ist, aber hier geht es gegen jede Form von Natursentimentalität, so sehr, dass von Natur nur noch als Bodenseekulisse im Hintergrund die Rede sein kann. Die Regie konzentriert sich aufs Bühnenbild und aufs Licht, üppig die Kostüme, verschwenderisch die Effekte, es knallt und knistert, Feuer im Wasser, bunte Sprudel, Nebel, Riesenschlange über toten Seelen. So wird das Ganze Bilderbogen und Fantasy. Es ist Oper, die wirklich Schaulust entfaltet, auch für Einsteiger geeignet und für opernlose Menschen.

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Die Geschichte des Freischützen – ein junger Mann, der nicht schießen kann, gibt seine Seele dem Teufel hin, für ein paar Kugeln, mit denen er das Schützenfest gewinnt und damit auch die Braut – spielt am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die meisten Regisseure interessiert das nicht, aber Stölzl und sein Team verlegen die Szene zeitlich wieder dorthin, sie bauen ein Bühnenbild, das an die Winterbilder Pieter Breughels erinnert, aber genauso auch an die Kulissen von Harry Potter. Nach vorne läuft der Bodensee herein und bildet eine Art Lagune. In ihr spielt sich das meiste ab, wie diese Inszenierung überhaupt ausgesprochen planschig ausfällt. Man muss das erwähnen, weil es mit dem Schicksal der Musik an diesem Abend zu tun hat. Es ist wirklich die Frage, ob einer noch gut singen kann, wenn er gerade aus dem Wasser auftaucht und noch bis zu den Knien darin steht. Mauro Peter ist als Max nicht zu beneiden und überzeugt vor allem mit einer schauspielerischen Leistung. Nikola Hillebrand bleiben als Agathe Tauchgänge erspart, weswegen ihr heller, klarer Sopran Eindruck hinterlässt. Mit den Wiener Symphonikern dirigiert Enrique Mazzola einen munteren Soundtrack, setzt dabei aber sehr entschlossene dramatische Akzente.

Philipp Stölzl hatte 2019 mit seiner Inszenierung von Verdis Rigoletto in Bregenz einen ähnlichen visuellen Furor entfaltet. Auch bei seinem Freischütz lautet der Einwand nicht, ein Regisseur missachte das Musikalische, weil es ihm nur noch auf Effekte ankommt. Stölzl und sein Textautor Jan Dvořák setzen sich intensiv mit dem Stoff auseinander und verwandeln ihn keinesfalls in ein harmloses Märchenspiel. Aber in was dann? Ihre Eingriffe sind erheblich, es gibt nun eine Rahmenhandlung, einen Erzähler, neu komponierte Begleitmusik, viele neue inhaltliche Motive. Unter den Schichten der Verniedlichung soll etwas Ernsthaftes, Brisantes freigelegt werden. Der Freischütz ist ja auch ein Faust fürs Bürgertum, das nicht mehr romantisch, sondern schon biedermeierlich sein möchte. Die Verpfändung der Seele folgt nicht mehr wie bei Goethe unbändigem Erkenntnis- und Erlebenswillen, sondern dem Wunsch nach geordnet-geruhsamer Existenz.

Stölzl und Dvořák möchten dagegen eine schärfere, heftigere, faustischere Geschichte erzählen. Dazu bemächtigen sie sich der Rezitative und pflanzen dem alten ein neues Stück ein. Der Teufel ist hier der echte Spielleiter, der schlüpfrige Samiel (in einer Sprechrolle Moritz von Treuenfels), der erpresst, seine Intrigen spinnt, die Puppen tanzen lässt und uns die Story mit großem Selbstbewusstsein erzählt. Agathe ist schwanger, vielleicht begehrt sie ihre Freundin sogar mehr als den Bräutigam, am Ende ist sie tot, genau wie Max. Dergleichen Freiheiten irritieren die Freischütz-Fans. Plötzlich wird das Ganze zum barocken Welttheater, auch wenn es wie eine Hollywoodrevue aussieht. Es drängt sich als bittere Moritat über die Abgründe des Menschlichen in die Wahrnehmung, wo es doch nur ums Singen und ums Heiraten zu gehen schien.

Gleichwohl, der Teufel besinnt sich am Ende. Er gewährt uns das Happy End doch, sagen wir mal als Parodie von Werktreue. Das Happy End wird vorgeführt wie in Brechts epischem Theater, als Willensentscheidung des teuflischen künstlerischen Souveräns. Und der Teufel sagt damit: Nichts passiert im Freischütz von Natur aus, alles ist Mache, Illusion, Tinnef – und die Romantik, liebe Leute, ist das Barock mit weichgespültem Bösen, das man scheinbar besiegen kann. Doch nun ist es wieder da, das Böse, in Gestalt allerlei sozialer Konflikte, die Carl Maria von Weber noch gar nicht ahnte.

Das sind so kleine Schritte heraus aus einer Illusionswelt, welche die Regietheater-Virtuosen doch mit allergrößtem technischen Aufwand selbst erzeugen. Leider blitzen die kratzigen Motive auf, ohne dass dramatisch etwas aus ihnen folgt, weder aus dem feministischen noch aus dem queeren noch aus dem sozialkritischen. Es drangsaliert die Regie gar nicht ein Werk von früher, sondern irgendwie rangelt das zeitgenössische Regietheater mit sich selbst. Der Beifall fiel sehr freundlich aus, nur ein paar Buhs für den Regisseur gab es.

Dann geht das Licht aus. Oben in der Bucht glitzert Lindau. Ein letzter hell erleuchteter Ausflugsdampfer zieht seine Bahn, und da hinten fährt noch ein Zug nach Zürich. Still liegt der See. Die Kunstnebel haben sich aufgelöst. Mit einem frischen Hauch kehrt die Romantik zurück.

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