Groß, größer, Coldplay
Es ist einfach, sie abzulehnen, und genauso einfach ist es, sie zu lieben: Coldplay, die größte Ex-Indie-Band der Welt, spielte das erste ihrer vier ausverkauften Stadionkonzerte in Wien.
Von Katharina Seidler
In allen Kulturen der Welt haben Menschen sich das ausgedacht: Nach getanem Tagwerk gemeinsam zusammensitzen, essen und trinken, reden und singen, Ablenkung, Verarbeitung, ein kleiner Rausch und vielleicht sogar eine Form von Transzendenz. Wovon sie zwischen, sagen wir, Lagerfeuer, Karneval, Laientheater, Maskenbällen oder Hausmusik aber nicht träumen konnten, was sich eigentlich selbst vor ein paar Jahren noch niemand in dieser Dimension ausdenken konnte, ist das Spektakel, das die Band Coldplay - ehemals vier schüchterne Buben aus London - bei ihrer aktuellen „Music of the Spheres“-Tour veranstalten. Es geht in einen menschlichen Kopf kaum hinein.
Nicht drei, sondern gleich vier Abende lang dauert das Gastspiel von Coldplay im Wiener Ernst-Happel-Stadion. Das sind vier mal sechzigtausend Menschen, die alle von hunderten Sicherheitskräften ruhig und geduldig über Stiegen, Schleusen und Schlangen geleitet werden. Das dauert, weswegen man eventuell das Opening Konzert der coolen Oska verpasst, dafür fühlt man sich aber immerhin gut bewacht und betreut, wie in Zeiten wie diesen leider dazugesagt werden muss. Drinnen gibt es dann eine Herzerlbrille und ein Leuchtarmband für jede:n. Mein Armband ist kaputt, was den Rest des Abends in regelmäßigen Abständen (alle paar Minuten) für Enttäuschung sorgen wird (bei mir).
APA/TOBIAS STEINMAURER
Funktionierende Armbänder
Wenn es dann losgeht, geht es so los, wie andere Stadionbands das Finale ihrer Shows gestalten, wenn überhaupt. Bereits zum allerersten Chorus der allerersten Nummer „Higher Power“ regnet es Girlanden. 59.999 Armbänder blinken wie wild. Es fliegen Konfetti und Luftballons fallen von oben aufs Publikum. Bald geht das ganze Stadion in die Hocke und springt auf Zuruf im Takt wieder auf - an diesem Punkt dauert das Coldplay-Konzert bisher etwa 5 bis 6 Minuten.
APA/TOBIAS STEINMAURER
Wie es für Popstars sein muss, Abend für Abend die Songs, die sie sich im Kinderzimmer ausgedacht haben, von derartigen Menschenmassen zurückgesungen zu bekommen, oft aus tränenüberströmten Gesichtern, kann man sich ebenfalls kaum vorstellen. Vermutlich nicht nur als Service am Fan, sondern auch, um für sich selbst dieses Stimmenkonvolut irgendwie fassbar zu machen, hat es sich unter Bands eingebürgert, bei den Shows hochgehaltene Schilder vorzulesen, Einzelpersonen aus dem Publikum auf die Bühne zu holen und spontane Ständchen zu singen. Es sind immer die herzerwärmendsten Momente eines Konzerts, und der über-charmante Chris Martin spielt dieses Spiel besonders lieb und respektvoll. Unendlich geduldig streckt er verschreckten Teenagerinnen die Hand entgegen, wenn er ihren Songwunsch „Everglow“ für sie erfüllt: „Come on, it’s okay. You’re okay.“ Flüsternd bewegen die beiden am Klavier sitzend die Lippen mit.
APA/TOBIAS STEINMAURER
Er gratuliert Geburtstagskindern und schickt Menschen Kraft, die derzeit eine schwere Krankheit durchstehen. Er hat zahlreiche Sätze auf Deutsch einstudiert und heißt extra angereiste Menschen aus verschiedenen Ländern willkommen; selbst die hochgehaltenen Israel- und Palästina-Flaggen bringt er elegant in einem Satz zusammen: „Thank you for being here together tonight.“ All diese Liebheit, die über das Vierteljahrhundert Bandgeschichte hinweg auch musikalische Ecken und Kanten mehr und mehr abgeschliffen hat, bringt Coldplay regelmäßig Spott und Häme ein (nicht zufällig übrigens oft auf Facebook). Es stimmt schon, nach dem zweieinhalbten Album wurde ihr Sound glatter und massentauglicher, und auch an diesem Abend ist die Dance-Phase, deren Tiefpunkt nicht nur mit „Something just like this“ sondern auch mit der BTS-Kollaboration „My Universe“ erreicht wurde, eine Herausforderung. Jemand erwähnt sogar an einem Punkt Imagine Dragons als Referenz und wir wollen nicht widersprechen.
APA/TOBIAS STEINMAURER
Es ist aber nur vermeintlich die abgeklärtere Position, Coldplay zu hassen. Zwanzig gute, ewige Hits wie „The Scientist“ oder „Fix you“ reichen locker, um dieser Band das Herz zu schenken, auch wenn das vielgeliebte Frühwerk leider nur einen kleinen Teil der aktuellen Setlist ausmacht. Aber wer bei diesen Konzerten im Blinklicht-Gewitter sitzt, müsste schon stark dagegen ankämpfen, um sich nicht mitreißen zu lassen. Die Songs steigern sich mittels stoischer Gitarren und Schlagzeug-Klimaxe in ungeahnte Höhen, Chöre aus „Ooohs“ und „Aaahs“ gehen ins Ohr, dazwischen explodiert immer wieder einmal ein Feuerwerk oder es tanzt ein Mann im Elefantenkostüm auf der Bühne. Chris Martin und seine Bandkollegen, bis heute in der Originalbesetzung, strahlen um die Wette. Taylor Swifts „Love Story“ wird im Duett mit der bezaubernden Maggie Rogers als Verneigung vor dem Zusammenhalt der Swifties rund um die abgesagten Wien-Konzerte gecovert. What’s not to like?
APA/TOBIAS STEINMAURER
Coldplay spielen insgesamt 4 Shows in Wien, am 21. & 22. sowie am 24. & 25. August im Ernst-Happel-Stadion. Alle Konzerte sind ausverkauft.
Haltung & EngagementHinzu kommt die Haltung, die mit der Musik von Coldplay immer Hand in Hand geht. Give me strength, reserve control / Give me heart and give me soul / Wounds that heal and cracks that fix / Tell me your own politik: Im Fall von Coldplay heißt diese Politik Nachhaltigkeit und Fair Trade, Umweltschutz und Bewusstseinsbildung. Ein Teil des Stadions wurde als kinetische Tanzfläche gestaltet, auf der die Sprünge des Publikums in Strom umgewandelt werden. Es gibt mehrere Trinkwasser-Stationen, um Plastikflaschen zu vermeiden; für die dennoch verursachten CO2-Emissionen eines derartigen Tourspektakels werden Millionen Bäume gepflanzt. Man kann dieses Engagement gerne belächeln, in Wahrheit aber gibt es für Popstars mit einer derartigen Reichweite keine Entschuldigung, sich nicht so zu verhalten. Ein Spruch wie „There is no planet B“, der auch mal auf einem ihrer Bandshirts gestanden sein könnte, mag banal klingen, er ist aber auch wahr.
APA/TOBIAS STEINMAURER
So strömen an diesem ersten von vier Coldplay-Abenden vor Glück und Gefühlen übersprudelnde Menschen in die Nacht. „Thank you for coming here tonight and for not being scared“, sagt Chris Martin, bevor in ausgiebigen Credits das gesamte Team, das hinter einer derart megalomanischen Produktion steckt, genannt wird. Wenn am Ende also Kitsch die Geheimwaffe sein sollte, die den Zynismus besiegt, soll es mir recht sein: Everything’s not lost! Die Leuchtarmbänder werden am Ausgang recycled.
Publiziert am 22.08.2024
Seitenanfang