Was ist das für eine Welt, in der Coldplay zur erfolgreichsten Band werden konnte? Die Briten zeigten es am ersten von vier Abenden im Ernst-Happel-Stadion, mit überlebensgroßen Melodien bis zum Exzess.
Wie konnte bloß eine kreuzbrave, blütenreine Popmusik produzierende britische Musikformation zur größten Band der Welt werden? Noch vor wenigen Jahren war es nicht vorstellbar, dass Coldplay zu einem Stadien füllenden Act werden könnten. Zu konventionell schien das zu sein, was sie produzierten, zu klinisch sauber der Sound, den sie servierten. Ihr erstes Album „Parachute“ gilt Popfans mit elaboriertem Geschmack als ihr bestes. Attraktiv für die Massen wird man allerdings erst, wenn man Menschen als Hörer gewinnt, die abseits der im popmusikalischen Diskurs wütenden Auseinandersetzungen um Definitionsmacht und Distinktion stehen. Und Coldplay wurde tatsächlich zum sozialen Phänomen, das aus den engeren Sphären der Popmusik glitt. Um festzumachen, was mit der Band passierte, muss man die Frage anders stellen: Was ist das für eine Welt, in der Coldplay zur beliebtesten Band werden konnte?
Diskret gesagt, eine lädierte. Pandemie, das Aufflammen von Kriegen und ein vor allem die Jugend überwältigendes Gefühl von Endzeit sind die Basis des globalen Erfolgs von Coldplay. Chris Martin hat Bono längst als Chefpathetiker des Pop abgelöst. Musste sich der Sänger von U2 in den Achtzigern nur um Afrika kümmern, so hat sich die Agenda für Chris Martin auf den gesamten Planeten ausgedehnt. Weltverbesserung wäre ein zu kleines Ziel. Coldplay geht es um nichts weniger als die Rettung des Planeten.
Diese Ausrichtung zeigte sich exzessiv schon im Vorprogramm. Oberflächlich gesehen sangen da die heimische Singer-Songwriterin Oska und die amerikanische Country-Pop-Heulboje (im besten Sinne) Maggie Rogers. Tatsächlich aber spielten die Messages, die über die LCD-Bildschirme kamen, die Hauptrolle. Hier wurde minutiös Zeugnis abgelegt über die umweltverbessernden Maßnahmen, denen Teile der Einnahmen zugeführt werden.
Coldplay tun Gutes und singen darüberJeder, der eine Karte gekauft hat, hat zum Guten beigetragen. Zur Renaturierung der Meere und Ozeane, zur Wiederaufforstung von Wäldern in Südamerika, zur Rehabilitation von Wildtieren in Afrika u.v.m. Wem das zu wenig war, der konnte auf sogenannten kinetischen Tanzflächen und beim Radeln auf Powerbikes ganz konkret Strom für die Bühne im Ernst-Happel-Stadion erzeugen. Coldplay tun Gutes und reden und singen darüber. Längst ist ihre Musik der Soundtrack der Harmoniesehnsucht einer Generation. Mit dem Kauf eines Coldplay-Albums oder einer Konzertkarte wird man Teil einer Bewegung, die gegen Agonie und Resignation ankämpft.
Chris Martin beim ersten von vier Wien-Konzerten. APA
Botschaft ohne ÜberraschungAls dann John Williams′ „Flying Theme“ aus dem Film „E.T.“ als Eröffnungsmusik ans Ohr brandete, waren bereits viele von sich und ihrem Engagement zu Tränen gerührt. Und damit bereit, für zweieinhalb Stunden Coldplay-Softcore vom Feinsten. Der erste Akt, „Music of the Spheres“, hob mit dem Song „Higher Power“ in zarter Melodieführung ab, um zu erkunden, was das Universum im Innersten zusammenhält. Und ja, es war keine Überraschung, als sich herausstellte, dass es die Liebe ist. Diese Botschaft kam in radiofreundlicher Gestalt, was essenziell für das Gros der Coldplay-Fans ist, die so etwas wie die Systemerhalter der Gesellschaft sind. Früher lag die Faszination von Popmusik eher darin, Abweichler und Renegaten zu feiern. Jetzt will sie die Kraft sein, die zusammenführt.
Coldplay feiern die Kräfte des Zusammenführens APA
Wenn Coldplay rocken, dann tun sie es, etwa bei „God Put A Smile Upon Your Face“, mit beachtlicher Intensität. Ihre Spezialität sind dennoch die Midtemposongs und natürlich die steinerweichenden Balladen, die sie auf insgesamt drei Bühnen spielten. Immer nah am Menschen sein. Fans dürfen mit auf die Bühne. Was spontan aussah, war natürlich präzise geplant. Erwiesen Coldplay zuletzt in München der gleichzeitig in der Stadt gastierenden Sängerin Adele mit einem Song Reverenz, so wussten sie natürlich, um das große Loch, dass die Absagen der Konzerte von Taylor Swift in die Herzen vieler Wiener gerissen hat. Und so klaubte sich Sänger Chris Martin zwei Swifties aus dem Publikum, um sie bei einer beherzten Coverversion von Swifts „Love Story“, hier im Duett mit Maggie Rogers gegeben, ein wenig mitgreinen zu lassen.
Auch bei „Everglow“ wurden Betriebsfremde auf die Bühne gelassen, um bei der Entstehung der Musik öffentlich zu staunen. Verwundert gaben sich dann auch Coldplay selbst. Im verhuschten Chorgesang von „Human Heart“ staunten sie über die Resilienz des menschlichen Herzens. Und sorgten dann mit dem durchaus brutal hingeknallten „People Of The Pride“ für gefährlich hohen Puls.
Konzert in vier Teilen – mit je einem HighlightIn jeder Sektion des in vier Teilen dargebotenen Konzerts labten musikalische Highlights. Im ersten Teil war es das optimistisch schnalzende „Adventures Of A Lifetime“, im zweiten das wehe „Everglow“, im dritten die Jahrtausendballade „Yellow“ und zu guter Letzt „Fix You“. Da verzieh man Martin sogar seinen Versuch, bei der Coverversion „Something Just Like This“ in Gebärdensprache zu „singen“ oder die projizierte Aufforderung, dass die Fans vom Rauchen im Stadion absehen mögen, weil es „die Luftqualität für die Künstler verbessert.“ Am Ende war es der „Good Feelings“, die noch der vorletzte Song feierte, dann aber doch zu viel.
Ein zart blümerantes Gefühl stellte sich ein. Ein wenig so, wie nach einem im Kino rasch verschlungenen Sackerl Sportgummi. Eine Erfahrung, aus der man paradoxerweise doch nie lernt. Das menschliche Herz, es ist tatsächlich unergründlich.