Live in der Stadthalle - Cigarettes After Sex: Für den Herbst geboren
Keine Band der Welt passt besser in die nebulöse November-Stimmung als Cigarettes After Sex. Das texanische Trio mit dem Hang zu Schwermut und ausladender Melancholie liebt es, sich hierzulande im tiefen Herbst zu präsentieren. 2016 im Grazer ppc, 2017 beim „Ahoi! Pop“ im Linzer Posthof, 2019 gleich zweimal in der Wiener Arena, voriges Jahr im Gasometer und heute in der Wiener Stadthalle. Man muss kein mathematisches Genie sein, um zu bemerken, dass der Karriereaufstieg zwar kontinuierlich, aber doch mit einem sanften Raketenantrieb funktioniert. Als die Band 2016 beim genial kuratierten, aber leider nur kurzlebigen „Out Of The Woods“-Festival im brachliegenden Wiesen düstere Hymnen über die Erdbeerfelder sang, bestand das Publikum noch aus enghosigen Indie-Liebhabern und älteren Festivaljunkies. Am gegenwärtigen Sonntagabend ist der Kreisch-Level höher, denn das Stammpublikum der Band hat in den letzten acht Jahren das Alter halbiert bis gedrittelt – was ist da passiert?
El Dorado der SchwermutDie simple Antwort: Corona. Die detaillierte: Corona und die Auswirkung auf eine im Stich gelassene Jugend. Während sich Pubertierende quer über den Globus gute zwei Jahre lang nicht ihre Hörner abstoßen konnten, suchten sie ihr Seelenheil während der erzwungenen Isolation im kulturellen Seelenheil. Sprich: Computerspiele, Netflix, TikTok. Auf letzterer Hype-Plattform wurden die aufmerksamkeitsheischenden Kurzvideos vermehrt mit den schweren Liedern der Texaner unterlegt und schon setzte sich eine Kettenreaktion in Gang. Nebenbei wurden die Songs von Cigarettes After Sex in „Sad Indie Songs“-Playlists des schwedischen Streaming-Riesen Spotify gepackt. Eine nach Trost und Verständnis suchende Generation (Z) fand ihr El Dorado in der eunuchenhafte Stimme von Frontmann Greg Gonzalez, die sich mit repetitiven, entschleunigten Instrumentalstrukturen vermischt und somit einen absoluten Gegenpart zur Schnelligkeit jener Plattform bildet, auf die die Band in lichte Höhen geschossen wurde.
So war es möglich, dass sich um das mittlerweile in Brooklyn beheimatete Gespann ein Internet-Kult bildete und die Hallen von Jahr zu Jahr größer - aber stets ausverkauft waren. Dass man nur ein Jahr nach einer Show im Gasometer in der größten Halle des Landes das „Ausverkauft“-Schild (14.000 Menschen) anbringen kann, damit rechneten die Veranstalter noch nicht einmal mit dem größten Zweckoptimismus. Langjährige Fans der Band befinden sich mittlerweile in der Minderzahl. Die Älteren sind zuhauf als Begleitpersonen für ihre Sprösslinge im Einsatz, die wiederum feiern verjährt, dieselben Songs wie ihre Erziehungsberechtigten. Ein Kreislauf, der sich so nur selten schließt. Die Magie der Band erkennt man nur, wenn man der Dunkelheit des Daseins nicht völlig abgeneigt ist. Nur einen Tag nach der italienischen Abrissbirne Gigi D’Agostino wirkt das Set der Texaner wie eine musikalisch inszeniert Grab-Liturgie.
Eine gewisse GrunddistanzDrei zarte Personen im modisch-praktischen Schwarz bevölkern die überdimensionale Bühne, auf der kein Raum für Effekte ist. Keine Feuersalven, keine sprühenden Funken oder sonstige Gag-Gimmicks. Während der ersten Nummern kleidet sich die Band, die den Fotografen das Schießen von Farbbildern verwehrt, in einen Vorhang-artigen Lichtquader, der eine gewisse Grunddistanz vermittelt. Frontmann Gonzalez ist mittlerweile in Würde ergraut und hat das Haar seit dem letzten Stelldichein wallen lassen. Mit Lederjacke, Sonnenbrille und E-Gitarre erinnert er optisch eher an einen norwegischen Garage-Rocker als an einen mystischen Geschichtenerzähler mit der tiefen Liebe für dichte Soundwelten. Die Songs des im Sommer veröffentlichten Album „X’s“, die sich sehr eindeutig und intim um Erlebnisse und Erfahrungen Gonzalez‘ aus seiner gescheiterten, vierjährigen Beziehung entwirren, sind im scheinbar so nahe, dass er stark mit ihnen spart.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sich das musikalische Œuvre der Band mittlerweile zu stark wiederholt. Die Klassiker der Debüt-EP „I.“ und des Debütalbums „Cigarettes After Sex“ sind mit ihrer Mischung aus Shoegaze, Slowcore und melancholischen Art-Pop so intensiv und eindringlich, dass alles Kommende zwangsweise zum Scheitern verurteilt war. Das merkt man nicht zuletzt im abendfüllenden Direktvergleich, wo neue Songs wie „Dark Vacay“ oder die texanische Heimathymne „Tejano Blue“ krachend an Klassikern wie „Sweet“ oder „Heavenly“ abperlen, die noch dazu euphorisch vom Publikum bekreischt werden. Für die magischen Momente des Abends braucht es wenig Firlefanz. Etwas mehr Licht und einen markant-einleitenden Basslauf bei „Nothing’s Gonna Hurt You Baby“, eine kollektiv mitsingende Halle bei „K.“ und eine messianische Darbietung des Band-Tophits „Apocalypse“, an dessen Ende sich Gonzalez hinkniet und die Setlist zielgerichtet einem enthusiasmierten Fan reicht.
Messianische OblatenverteilungDie Nähe des Musikers zu seinen Anhängern ist trotz der distanzierten Klangwelten immer spürbar. Die üppige Videowall wird im Bühnenhintergrund nur selten eingesetzt. Wenn, dann sieht man einen farblosen Vollmond am Firmament schweben, über dem Meer leuchten oder gegen Nebelschwaden ankämpfen. Bei „Cry“ darf auch einmal ein Wasserfall als optischer Suffix begeistern. Zweimal richtet Gonzalez das Wort leise und dankend an seine Jünger, zwischendurch bewegt er sich auf den vorderen Bühnensteg, um Plektren wie Oblaten zu verteilen und sich im Jubel der Menge zu suhlen. Dass sich Gonzalez dabei immer ein bisschen verloren vorkommt, macht die Jugendmesse wieder sympathisch und gleicht die Tatsache aus, dass sich auch bei einer schmalen 80-Minuten-Show zahlreiche Redundanzen einschleichen. Aber bei Cigarettes After Sex geht es nicht um Abwechslung und Progression. Es geht darum, einer gebeutelten Generation mithilfe von Melancholie die Freude am Leben zurückzugeben. Damit hat das düstere Trio mehr erreicht, als wild umher hüpfende Pop-Acts ohne Botschaft.