Warum Cem Özdemir plötzlich gegen seine eigene Regierung ...
von Jan Rosenkranz
19.12.2023, 09:34 4 Min.
In Berlin protestieren Tausende Landwirte gegen den drohenden Abbau von Diesel-Subventionen. Ganz vorne dabei ist ausgerechnet der grüne Landwirtschaftsminister
Der Mann in der blauen Kapuzenjacke musste lange warten. Über eine Stunde stand er nun schon auf der Lkw-Bühne direkt vor dem Brandenburger Tor in der Kälte, trat von einem Bein auf das andere, während er sich bemüht ungerührt anhörte, was die deutsche Bauernschaft von den jüngsten Sparplänen der deutschen Regierung hält. Nicht viel, um das Mindeste zu sagen. Dann erst durfte Agrarminister Cem Özdemir ans Mikrofon treten. So laut, wie es daraufhin wurde, war es den ganzen Tag noch nicht gewesen.
Zu Tausenden waren die Bauern am Montagmorgen aus dem gesamten Bundesgebiet in die Hauptstadt gereist, hunderte von ihnen mit Mähdreschern und Traktoren, um gegen zwei geplante Kürzungen zu protestieren: die Streichung des Dieselprivilegs und das Ende der Befreiung von der Kfz-Steuer, was die Branche in Summe fast eine Milliarde Euro kosten soll, pro Jahr. Also blockierten sie erst Teile der Innenstadt, jetzt hupten und trillerten sie, riefen „Buh“ und „Lügner“.
„Ich weiß, dass sie mit einer Riesenwut hier nach Berlin gekommen sind“, hob Özdemir an. Und was dann geschah, ließe sich je nach Blickwinkel als Solidaritätsbekundung beschreiben, als gerade noch opportun oder schon oppositionell. Özdemir ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er nicht auf diese Lkw-Bühne geklettert war, um den Sparbeschluss der Ampel zu verteidigen, sondern um sich dem Protest mehr oder weniger vollumfänglich anzuschließen. Die Rede des Grünen-Politikers unterschied sich allenfalls in Nuancen von jener des Bauernpräsidenten, der zuvor gesprochen hatte.
„Jeder Euro, jeder Cent zählt“, rief Cem ÖzdemirDer Landwirtschaft gehe es schlecht, deklamierte Özdemir. „Klimawandel, Ukraine-Krieg, Vorschriften, Preiskampf, billige Konkurrenz aus dem Ausland“ – all das setze den Bauern hart zu. „Jeder Euro, jeder Cent zählt“, rief der Minister und spätestens beim Nachsatz wurde deutlich, dass er nicht allein zu den Bauern sprach, sondern mehr noch zu seiner Koalition: „Deshalb werde ich mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass das so nicht kommen kann.“ Und gleich nochmal: Sparen schön und gut, aber nicht in diesem Umfang, „deshalb kämpfe ich im Kabinett dafür, dass es in dieser Härte nicht kommt“.
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Abbau von Staatshilfen – das klingt nach liberalem Grundsatzprogramm. Streichung klimaschädlicher Subventionen – das klingt nach grünem Wunschzettel. Doch statt Harmonie wieder nur Dissonanzen. In der FDP-Fraktion rumort es, im grün-geführten Ministerium auch, und so ist der Dieselstreit nur ein weiteres Beispiel für den fragilen Ampel-Haushaltsfrieden.
Özdemirs Haltung war schon am Tag der Einigung selbst klar geworden, bereits in der Regierungsbefragung im Bundestag äußerte er Skepsis. Das ganze Wochenende lang hat er dann in diversen Schalten mit Vertretern der Branche, der Partei und der Koalition seine Ablehnung vertreten. Ihn habe die Entscheidung „auch überrascht“, klagte der Landwirtschaftsminister schließlich am Montag in einem Interview mit den RND-Zeitungen. Tenor: „Ich habe immer davor gewarnt, unsere Landwirtschaft überproportional zu belasten.“ Ausgerechnet die Streichung der Agrardieselbeihilfe habe man erst im Sommer auf ausdrücklichen Wunsch von Lindners Bundesfinanzministerium hin geprüft – und aus politischen Gründen wieder verworfen.
Man konnte seine Botschaft bereits in höchst bäuerlicher Frühe im ARD-Morgenmagazin vernehmen, wo der Minister auch daran erinnerte, dass diverse Nachbarländer diese Agrarsubvention weiterhin zahlen, eine Streichung also unmittelbar zu Wettbewerbsnachteilen führen würde. Und schließlich, Özdemirs Joker in der Debatte, hätten die Bauern gar keine Alternative zum Diesel, es gebe schlicht keine Elektro-Traktoren – „auch die Politik kann Physik nicht außer Kraft setzen“, woraufhin dem Interviewer entfuhr, Özdemir würde jetzt wirklich klingen wie der Vorsitzende der Bauerngewerkschaft.
Dem Grünen-Politiker Cem Özdemir wäre das früher vielleicht ein bisschen unangenehm gewesen, auch wenn er sich schon immer in der Rolle des Ober-Realos gefiel, der sich traute Sachen zu sagen, die man von den Seinen so nicht gewohnt war – zur Integration von muslimischen Migranten oder zu Waffenlieferungen an die Peschmerga (Özdemir: „Die können den IS nicht mit der Yogamatte unterm Arm besiegen“).
Als Bauernversteher hat man's leichter im LändleDarum ist es ihm andererseits womöglich gar nicht so unrecht, in diesem Tagen als Bauernversteher zu gelten. Womöglich ist das in seiner Lage sogar alternativlos. Es handelt sich schließlich um weit mehr als ein Gerücht, dass der selbsternannte „anatolische Schwabe“ gern Winfried Kretschmann beerben möchte als grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Die nächsten Landtagswahlen stehen offiziell zwar erst im Frühjahr 2026 an, aber es gilt schon jetzt als höchst ambitioniert, an Kretschmanns Erfolge anknüpfen zu wollen. Mit einem Image als Bauernkiller wäre das Vorhaben wohl endgültig aussichtslos. Im ländlich geprägten Ländle erwirtschaften heute noch 39.000 Betriebe 3,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr – und geben 67.000 Menschen Arbeit.
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Einige sind unter den 8000, die sich nach Angaben des Bauernverbandes vor dem Brandenburger Tor versammelt haben. Ein Mähdrescher blies plötzlich Stroh auf den Vorplatz, jemand steuerte ein paar Pferdeäpfel bei, ein Traktor hupte unentwegt, der Bauernpräsident rief die Bauern zur Fairness auf. Özdemir gab sich unbeeindruckt. „Ich halte das aus, ich war mal Handballtorwart, ich werd' dafür bezahlt“, rief er in den Lärm. Er wolle sich keinen schlanken Fuß machen. Er wolle ihnen nicht das Blaue vom Himmel versprechen. Er suchte dann aber doch lieber den Schulterschluss mit den Bauern – gemeinsam gegen Kanzler, Vizekanzler und Finanzminister. „Wir wollen die doch überzeugen!“
Und die Bauern so: „Wir wollen Neuwahlen!“ – „Neu-wahl-en, Neu-wahl-en!“
Özdemir charmierte ungerührt weiter. Er wüsste doch, dass sie an sieben Tagen die Woche schuften würden. Dass sie sich den Herausforderungen der Zukunft stellen würden. Vor allem eine Botschaft wollte er am Ende unbedingt noch senden, genaugenommen eine Warnung an all jene, die meinen, so viele Bauern seien ja gar nicht betroffen: „Da würden wir uns sehr täuschen in der Politik“, rief Özdemir, „denn hinter ihnen stehen viele im ländlichen Raum, die es ähnlich sehen“. Da bekommt der Bauernminister plötzlich sogar Applaus aus der Menge. Wahrscheinlich hat sich allein dafür das lange Warten gelohnt.
Dieser Text erschien zuerst auf stern.de.
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