Evakuierung läuft: Berg droht Schweizer Ort zu begraben
Evakuierung läuft
Seit Jahren ist der Hang neben dem Schweizer Dorf Brienz im Kanton Graubünden in Bewegung. Regelmäßig hielt das die rund etwa hundert Bewohnerinnen und Bewohner in Atem. Zuletzt nahmen die Bewegungen so stark zu, dass in den nächsten ein bis drei Wochen mit gravierenden Felsrutschen zu rechnen ist. Anlass für eine Entscheidung, die schon lange befürchtet wurde: Der Ort muss bis Freitag geräumt werden.
Online seit heute, 15.09 Uhr
Brienz selbst rutscht bereits seit 20 Jahren rund einen Meter pro Jahr Richtung Tal. Fachleuten bereitet aktuell vor allem ein Felsbereich auf dem Berghang Sorgen, der als „Insel“ bezeichnet wird. Bis zu zwei Millionen Kubikmeter Felsmaterial sollen dort in Bewegung sein. Die Gesteinsmassen würden sich nach Messungen mehr als doppelt so schnell als noch vor wenigen Wochen bewegen.
Die Entscheidung, das zur Gemeinde Albula/Alvra gehörende Dorf bis Freitagabend zu evakuieren, habe vor allem auch mit der Wetterprognose zu tun, sagte Simon Löw, emeritierter Professor für Ingenieurgeologie an der ETH Zürich, gegenüber dem Schweizer Fernsehen. Bis Sonntag seien jeden Tag Niederschläge vorhergesagt, was die Rutschgeschwindigkeit zusätzlich erhöhen könnte.
Mehrere Szenarien möglichDie „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) schrieb zuletzt von drei möglichen Szenarien, wie sich die Situation in Brienz in den nächsten Wochen weiterentwickeln könnte. Diese würden laut Fachleuten von einzelnen Felsstürzen bis hin zu einem Bergsturz reichen. Eines hätten jedoch alle drei Szenarien gemeinsam: Es ist unklar, ob das Dorf von den Felsmassen getroffen wird.
Im wahrscheinlichsten Szenario könnte es zu mehreren Felsstürzen mit einem Volumen von jeweils mehreren tausend bis mehreren hunderttausend Kubikmetern kommen. Fachleute geben die Wahrscheinlichkeit mit 60 Prozent an. Sollte es zu größeren Felsstürzen kommen, könnte der höchstgelegene Teil von Brienz von Gesteinsmassen erreicht werden, ansonsten würde der Ort verschont bleiben.
Riesige Felsmassen bedrohen das Bergdorf Brienz in der Schweiz. Die Einwohnerinnen und Einwohner wurden aufgefordert, ihre Häuser ehestmöglich zu verlassen. Oberhalb des Dorfes sind bis zu zwei Millionen Kubikmeter Felsmaterial in Bewegung. Die Gesteinsmassen bewegen sich nach den Messungen mehr als doppelt so schnell wie noch vor wenigen Wochen.
Bei Szenario zwei würde sich Gesteinsschutt etwas langsamer mit einer Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Tag oder Woche Richtung Tal bewegen. Fachleute halten dieses Szenario mit einer Chance von 30 Prozent allerdings für weniger wahrscheinlich. Sollte dieses Szenario eintreten, könnte der Gesteinsschutt mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 30 und 90 Prozent bis Brienz vorstoßen.
Für äußerst unwahrscheinlich halten Fachleute das dritte mögliche Szenario. Dabei würde es zu einem Bergsturz kommen, bei dem ein riesiges Felsvolumen lawinenartig zu Tal stürzen und dabei möglicherweise eine Geschwindigkeit von über 200 Kilometer pro Stunde erreichen könnte. Falls das eintreten sollte, würde Brienz mit einer höheren Wahrscheinlichkeit getroffen werden.
Fotostrecke mit 3 Bildern Phase Orange ausgerufenMit diesen Aussichten hat bereits am 5. Mai der Führungsstab jener Gemeinde, zu der Brienz gehört, die Phase Gelb für das Dorf ausgerufen: Für die Bewohnerinnen und Bewohner hieß das, dass sie sich auf eine bevorstehende Evakuierung vorbereiten sollten. Am Dienstag folgte Phase Orange – bis Freitag um 18.00 Uhr sollte das Dorf geräumt werden.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Brienz wurden aufgefordert, bis Freitagabend das Dorf zu verlassen„Uns ist bewusst, dass dieser Entscheid mit sehr vielen Emotionen verbunden ist“, sagte Gemeindepräsident Daniel Albertin Dienstagabend bei einer Informationsveranstaltung. Das Ziel sei nun, „einfach alle heil aus Brienz rauszubringen“. Nicht leichtfertig, aber schnell sei die Entscheidung laut dem anwesenden Geologen getroffen worden. Denn die Indizien würden eindeutig sein.
Ort vorübergehend weiterhin zugänglichAb Samstag wird den Bewohnerinnen und Bewohnern von Brienz tagsüber ein vorübergehendes Betreten weiterhin ermöglicht werden, solange es die Gefährdungslage zulässt. Die Zufahrtsstraßen in den Ort werden dann allerdings nur noch für Anrainerinnen und Anrainer offen sein.
Sobald ein Abbrechen der „Insel“ jedoch nur noch drei bis zehn Tage entfernt ist, wird die Gemeinde die Phase Rot ausrufen. Ab diesem Zeitpunkt ist auch tagsüber ein Betreten des Ortes nicht mehr erlaubt. Wann und ob die Menschen je zurück nach Brienz können, konnte Christian Gartmann, Mitglied des Gemeindeführungsstabs, gegenüber der Schweizer Zeitung „Blick“ nicht sagen.
Natürliches PhänomenBei den Felsbewegungen um Brienz handelt es sich um eine der größten Bewegungen eines Berghanges, die zurzeit im Bereich der Alpen ablaufen. Wissenschaftler vermuten, dass der Hang bereits seit der letzten Eiszeit Richtung Tal wandert. Die Rutschungen, Felsstürze und Bergstürze, wie sie hier jetzt drohen, sind allerdings natürliche Prozesse im Gebirge, die bei Instabilität an Bergflanken auftreten können.
Der Klimawandel spielt laut Löw in Brienz keine Rolle. Er sorgt zwar dafür, dass Felsstürze in manchen Gegenden wahrscheinlicher werden, etwa dort, wo Permafrost auftaut, Schutt und Geröll Halt verlieren oder Wasser in Felsspalten eindringt und der Druck Felsstücke absprengt. In Brienz gebe es allerdings keinen auftauenden Permafrost, und es sei kein Zusammenhang zwischen den jährlichen Niederschlägen und der Fließgeschwindigkeit des Geländes festgestellt worden.
Brienz teilt Schicksal mit anderen OrtenMit ihrem Schicksal sind die Bewohnerinnen und Bewohner von Brienz nicht allein. Denn bereits vor ihnen mussten immer wieder viele Menschen ihre Dörfer verlassen, wie „Blick“ zuletzt berichtete. Vor 400 Jahren etwa mussten die Bewohnerinnen und Bewohner von La Presa im Schweizer Tessin den Ort räumen – ebenfalls aufgrund eines bevorstehenden Erdrutsches. Letztlich kam es damals allerdings nicht dazu.
Ebenfalls im Tessin lag das Dorf Prada, das einst von rund 200 Menschen bewohnt wurde. In der Mitte des 17. Jahrhunderts flohen die Menschen allerdings – vermutlich vor Pest, Hunger und Klimaänderungen, wie Historiker vermuten.
Neben der Natur sorgte jedoch auch der technische Fortschritt dafür, dass viele ihre Heimat verlassen mussten. Über ein Dutzend Schweizer Dörfer, Siedlungen und Ortsteile mussten im vergangenen Jahrhundert Stauseeprojekten weichen, ein Thema, das fast jedem Bergkanton in der Schweiz bekannt sei.