Nur noch ein bis drei Wochen - so viel Zeit bleibt noch, schätzen Geologen, bis sich über dem Dorf Brienz in Graubünden die Felsmasse lösen wird. Die Gebirgshänge über dem Ort mit rund 85 Einwohnern sind schon seit vielen Jahrzehnten in Bewegung. Doch seit etwa vier Wochen rutscht nun ein Teil des Hangs so schnell abwärts, dass die Geologen, die den Hang und das Dorf überwachen, Alarm schlagen.
Am Dienstag hat die Verwaltung der Gemeinde Albula, zu der Brienz gehört, deshalb die Phase Orange ihres Notfallplans ausgerufen, das heißt: Das Dorf muss geordnet evakuiert werden. Bis Freitagabend, 18 Uhr, müssen alle Bewohnerinnen und Bewohner Brienz verlassen haben. Bis auf Weiteres bleibt nur das Vieh in den Ställen. Zwar können sich die Brienzer ab Samstag tagsüber noch im Dorf aufhalten, wenn es die Gefährdungslage zulässt, aber übernachten dürfen sie dort nicht mehr. Auch die Zufahrtsstraßen werden für alle Nicht-Anwohner gesperrt.
Wenn die Geologen den Felsabbruch in drei bis zehn Tagen voraussehen, wird die Gemeinde die Phase Rot ausrufen. Dann wird das Vieh evakuiert und auch tagsüber darf niemand mehr ins Dorf. Steht der Felsabbruch unmittelbar bevor, startet schließlich Phase Blau: Dann müssen auch zwei Häuser im Nachbarort evakuiert sowie weitere Straßen und Bahnlinien gesperrt werden.
Am Dienstagabend hat die Gemeinde zusammen mit Vertretern der Kantonsregierung in einem Nachbarort von Brienz über die neue Situation informiert. "Uns ist bewusst", sagte Gemeindepräsident Daniel Albertin bei der Veranstaltung, "dass der Entscheid mit vielen Emotionen verbunden ist." Man habe ihn aber keineswegs leichtfertig gefällt. Nach den Gesprächen mit den Experten sei dem Führungsstab der Gemeinde klar gewesen, dass eine Evakuierung bis Freitag "unumgänglich" sei.
Wie viel Gestein herunterkommen wird, ist schwer abzuschätzen. Am wahrscheinlichsten, so die Geologen, seien Felsstürze, bei denen sich ein paar Tausend, vielleicht auch einige Hunderttausend Kubikmeter lösen. Weniger wahrscheinlich ist ein langsames, aber lange andauerndes Abrutschen der Felsmasse als Schuttstrom, der das Dorf beschädigen kann. Die unwahrscheinlichste, aber dennoch mögliche Variante ist ein großer und schneller Bergsturz, bei dem mehr als 500 000 Kubikmeter Fels abstürzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese schnell stürzenden Felsmassen das Dorf erfassen, beträgt laut Geologen zwischen 60 und 90 Prozent.
Für die Brienzer, die schon lange mit der Bergsturz-Gefahr leben, beginnt mit der Evakuierung eine neue, akute Phase. Sie müssen nun in Ferienwohnungen oder private Unterkünfte ziehen, und noch haben nicht alle eine neue Bleibe. Die Gemeinde hat eine Hotline eingerichtet, um die Dorfbewohner zu unterstützen, und stellt ihnen einen Lagerraum für Möbel und anderen Hausrat zur Verfügung. Für die Kosten der Evakuierung haben Gemeinde und Kanton zudem 700 000 Franken Soforthilfe freigegeben, auch ein Spendenkonto ist eingerichtet. Natürlich sei das eine schwierige Situation, sagte Peter Peyer, der Regierungspräsident des Kantons Graubünden, am Dienstagabend. "Aber wir sind darauf vorbereitet und wir haben sie geübt." Die Fragen aus dem Publikum drehten sich dann vor allem um Details wie die Postzustellung oder um die Strom- und Wasserversorgung der Häuser.
Man werde alles dafür tun, so eine Vertreterin der Kantonsregierung am Dienstagabend, "dass das Leben nach Brienz zurückkehrt, dass Sie in Ihr Zuhause zurückkehren und dort bleiben können". Wann das sein wird, weiß keiner so genau. Die Bevölkerung muss sich laut Gemeinde darauf einstellen, dass die Evakuierung mehrere Wochen oder sogar Monate andauern wird.