„Brienz hatte großes Glück“: Felsmassen verfehlen nur knapp ...

Brienz

Noch dürfen die Einwohner von Brienz-Brinzauls nicht zurück in ihr Bergdorf. Aber sie dürfen sich Hoffnung machen, ihre Häuser und Wohnungen bald wieder betreten zu können. Denn ein großer Teil der Felsmassen, die das Bündner Dorf bedrohte und das deshalb vor gut vier Wochen evakuiert werden musste, ist in der Nacht zum Freitag mit großem Radau heruntergedonnert. Dabei blieben die Häuser unterhalb der Gemeinde verschont.

Fotos zeigen, dass die Gesteinsmassen wenige Meter vor dem ersten Haus des Dorfes, dem alten Schulhaus, auf rund 1100 Metern Höhe zum Stehen kamen. „Brienz hatte großes Glück“, sagte Christian Gartmann, Sprecher der Gemeinde, im Schweizer Radio SRF. Die Kantonsstraße sowie eine Blockhütte auf der Wiese unterhalb des Hanges sind hingegen unter meterhohem Schutt begraben. Gartmann gab zudem zu bedenken, dass Splittersteine wie Kanonenkugeln hunderte Meter durch die Luft geflogen und in Häuserwände und Fensterscheiben eingeschlagen sein könnten.

Der Felssturz ereignete sich zwischen 23 Uhr und Mitternacht. Im ganzen Talkessel sei es sehr laut gewesen. Der Krisenstab der Gemeinde tagte zweimal in der Nacht und wertete im Morgengrauen Fotos aus.

Nach einer ersten und damit vorläufigen Einschätzung ging Gartmann davon aus, dass mehr als die Hälfte der knapp zwei Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen, die Geologen als akut absturzgefährdet erachteten, abgerutscht ist. Wie groß die Gefahr weiterer Schuttströme oder Felsstürze jetzt noch sei, müssten die Geologen nun untersuchen. „Wir gehen derzeit davon aus, dass dies leider noch nicht ganz alles war“, sagte Gartmann. Wann die 85 Bewohner von Brienz wieder zurück ins Dorf dürfen, sei noch offen. „Bevor Brienz nicht vollständig sicher ist, kann Brienz auch nicht bewohnt werden.“

Kameras haben alles aufgezeichnet

Das Dorf ist seit Wochen gesperrt. Nur installierte Kameras haben rund um die Uhr aufgezeichnet, was passiert. Am Mittwoch waren bereits riesige Felsbrocken abgestürzt. Alles blieb nach erstem Augenschein auf Wiesen vor dem Dorf liegen.

Vorher-Nachher-Bilder zeigen nun die massiven Veränderungen im Landschaftsbild. Am Vortag waren in dem Gebiet noch nackte Felsen, einzelne Brocken, helles und dunkles Gestein sowie darunter Wiese, Bäume und eine Holzhütte zu erkennen. Am Freitag lag dies alles unter einem gigantischen grauen Schuttberg. Das Dorf sieht auf den Bildern im Vergleich dazu wie eine Miniaturanlage aus.

Unterhalb des Dorfes waren vorsichtshalber Straßen und Bahnstrecken gesperrt worden. Der Bahnverkehr in den Ferienort St. Moritz wird umgeleitet, weil die Strecke zwischen Tiefencastel und Filisur gesperrt ist, wie ein Sprecher der Rhätische Bahn sagte. Der 6. Etappenstart des Fahrradrennens Tour de Suisse musste am Freitag von La Pont nach Chur verlegt werden.

Felsmassen rutschten mit einer Geschwindigkeit von 40 Metern pro Tag

Anders als beim jüngsten Bergsturz in Tirol in Österreich ist in Brienz nicht der Klimawandel Auslöser. Er führt andernorts dazu, dass der Permafrost schmilzt, also das Eis, das Fels in großen Höhen wie Klebstoff zusammenhält. In Tirol waren am vergangenen Sonntag rund 100.000 Kubikmeter abgestürzt. Hunderte Meter des Südgipfels des Fluchthorn-Massivs samt Gipfelkreuz brachen ab. Das Felsmaterial landete fernab von bewohnten Gebieten und gefährdete niemanden.

Einem Schuttstrom, wie er sich nun ereignet hat, hatten die Geologen zuvor eine Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent zugeschrieben. Er ist weniger gefährlich für das Dorf als ein Felssturz, bei dem Gesteine mit einem Volumen von bis zu mehreren 100.000 Kubikmetern schlagartig herunterkrachen.

Die Felsmassen oberhalb von Brienz bewegen sich bereits seit mehreren Jahrtausenden. Seit 140 Jahren rutscht der Hang schneller als in der Zeit davor, nämlich mehrere Zentimeter im Jahr. Deswegen wird er mit einem ausgetüftelten Messsystem genau beobachtet. Diese Woche rutschten die Felsmassen schon mit einer Geschwindigkeit von 40 Metern pro Tag. Die „Insel“, wie der marode Felsabschnitt genannt wird, gilt als der am besten überwachte Bergabschnitt in der Schweiz.

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