Dieses Interview ist in der profil-Ausgabe Nr. 51 / 2019 vom 15.12.2019 erschienen.

Bierlein Brigitte - Figure 1
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Am Abend des 17. Mai 2019, dem Auftakt zu den Tagen des Donners der Innenpolitik, sitzt Brigitte Bierlein, Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, entspannt mit Freunden beim Heurigen – aber nur bis zu jenem Moment, als sie eine SMS mit dem Text „Das ist eine Bombe“ und dem Link zum Ibiza-Video bekommt. Zwölf Tage nach dem Ende der ÖVP/FPÖ-Koalition und dem Misstrauensantrag gegen das Übergangskabinett von Sebastian Kurz, am 29. Mai, bittet Bundespräsident Alexander Van der Bellen sie in die Hofburg. Sie kommt durch den Hintereingang und im vagen Glauben, dass ihr das Justizministerium angeboten werden könnte. Einen Tag später ist sie designierte Bundeskanzlerin; am 3. Juni werden sie und ihre Übergangsregierung angelobt. Seither residiert Bierlein, die erste Bundeskanzlerin der Republik, im Metternich-Zimmer im Kanzleramt; vor ihr hielt Kanzleramtsminister Gernot Blümel dort Hof. Eines seiner Bilder ließ sie hängen, und auch sonst trat Bierlein nicht mit der Absicht an, allzu viel zu verändern: Verwalten lautete ihre Devise. Ein Vorbild gab es dafür nicht, die Übergangsregierung war ein Novum für Österreich -und das Politamt Neuland für die 70-jährige Spitzenjuristin. Nun könnte sich ihre Amtszeit dem Ende zuneigen. Es wäre an der Zeit, sagt sie -ihre Glückskatze, ein Geschenk zum Einstand, "winkt schon sehr matt".

Frau Bundeskanzlerin, wenn wir uns hier umsehen, merken wir: Sie packen noch nicht.

Bierlein

Ich habe bewusst nicht viel hergeräumt, daher wird das Wegräumen nicht aufwendig sein. Es war klar, dass unsere Zeit hier beschränkt sein wird. Deshalb gibt es außer Bildern, die ich aus dem Verfassungsgerichtshof als Leihgabe mitgenommen habe, und einigen Büchern nicht viel zu packen.

Werden Sie von Sebastian Kurz informiert, wann Ihre Zeit hier zu Ende geht?

Bierlein

Na, das hoffe ich doch, dass wir als Regierung so zeitgerecht informiert werden, dass wir eine ordnungsgemäße Übergabe vonstatten bringen. Derzeit weiß ich über den Stand der Verhandlungen auch nicht mehr als die Medien. Wir haben mit einer neuen Regierung um die Weihnachtszeit gerechnet. Je näher Weihnachten rückt, desto unwahrscheinlicher wird das, aber Jänner müsste sich ausgehen.

Sie haben hier Ihre Glückskatze stehen, ein Geschenk von Außenminister Alexander Schallenberg zu Ihrem Amtsantritt. Die Batterie hält ein halbes Jahr, also bis Ende November. So lautete Ihr ursprünglicher Zeitplan?

Bierlein

Das stimmt, wir haben mit einem halben Jahr gerechnet. Die Batterie geht, wie man sieht, offenbar ein bisschen länger. Allerdings winkt die Katze schon sehr matt und nicht mehr wirklich mit Schwung. Ich muss mir überlegen, ob ich die Batterie noch tausche.

Die meisten Menschen, die Kanzler werden, arbeiten jahrelang darauf hin, bereiten sich quasi seit der Sandkiste darauf vor, zeigen in ihren Parteien auf. Bei Ihnen war das in der Lebensplanung nicht vorgesehen und ging abrupt. Wie ist es, plötzlich Kanzlerin zu sein?

Bierlein

Meine Lebensplanung war nicht sehr vorausschauend: Ich wollte Juristin und Richterin werden. Alle weiteren Schritte waren nie geplant, die Kanzlerschaft schon gar nicht. Ich war nie in einer Partei, nie politisch tätig, das hat sich über Nacht ergeben. Der Bundespräsident hat es mir angeboten. Ich war perplex, er wollte sofort eine Antwort. Mir war es sehr wichtig, zunächst den Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts zu fragen, ob er übernehmen kann, damit der VfGH nicht führungslos ist. Dann habe ich gebeten, eine Nacht darüber schlafen zu können. Das hat der Bundespräsident, wenn auch nicht sehr erfreut, zur Kenntnis genommen. In der Nacht habe ich durchaus gut geschlafen, was mich gewundert hat. In der Früh habe ich mir gedacht: Wenn man gefragt wird, und das als erste Frau, noch dazu in einer Krisensituation und für überschaubare Zeit, dann sollte man eigentlich Ja sagen. Daher habe ich mich entschlossen, die Funktion mit Demut zu übernehmen. Dem Bundespräsidenten und mir war wichtig, dass die Regierung zur Hälfte mit Frauen besetzt ist.

Bierlein Brigitte - Figure 2
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Ist eine Kanzlerschaft anders, als Sie sich vorgestellt hatten?

Bierlein

Ich muss zugeben, ich hatte nicht wirklich eine Vorstellung, wie Kanzlerschaft und Regierung von innen aussehen. Ich wusste auch nicht, wie ein Ministerrat in der Praxis abläuft.

Mittlerweile haben Sie auch erlebt, wie ein EU-Rat der Staats-und Regierungschefs funktioniert.

Bierlein

Das läuft durchaus gewöhnungsbedürftig ab. Das Klima ist freundschaftlich, man duzt einander gleich. Vor meinem ersten EU-Gipfel wurde mir avisiert, dass Ratspräsident Donald Tusk anrufen werde. Er hat sich mit den Worten gemeldet: "Hi, Donald here. Are you Brigitte?" Das war ungewohnt. Beim Gipfel selbst werden Themen abgearbeitet, teils in stundenlangen Diskussionen. Alle müssen ihrer Bevölkerung vermitteln, dass sie um ihre Standpunkte ringen. Das geht eben nicht in einer Viertelstunde. Wir haben einmal 19 Stunden am Stück verhandelt. Jean-Claude Juncker war noch um halb drei Uhr früh zu Scherzen aufgelegt, während jüngere Regierungschefs eingeschlafen sind.

Wer denn?

Bierlein

Das möchte ich nicht verraten. Nicht Angela Merkel, die war topfit und formulierte präzise, Hut ab. Ich dachte mir, wenn die anderen es aushalten, halte ich es auch aus.

© Walter Wobrazek 2019

Ehemalige Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein

© Walter Wobrazek

Ehemalige Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein in ihrem Büro im Bundeskanzleramt

Haben Sie manchmal über die seltsamen Rituale in der Politik gestaunt?

Bierlein

Es ist anstrengend. Und es ist eine eigene Welt. Doch man gewöhnt sich daran: Der zweite Gipfel war nicht mehr so aufregend. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich in meinem fortgeschrittenen Alter noch so spannende Erfahrungen machen darf.

Sie und Ihre Regierung genießen hohe Zustimmungswerte. Worauf führen Sie das zurück: dass Sie zurückhaltend sind und wenig Politik machen?

Bierlein

Ich glaube, dass die aufgeheizte Stimmung, die vorher durch Ibiza und Misstrauensantrag geherrscht hat, eine gewisse Aufregung verursacht hat. Wir als Regierung agieren sehr ruhig, was nicht schwierig ist, weil wir keine Parteipolitik betreiben.

Sie müssen auch nicht wiedergewählt werden.

Bierlein

Genau, keiner strebt ein politisches Amt an. Offensichtlich genießt die Bevölkerung diese Beruhigungsphase. Alle scheinen zufrieden zu sein, dass die Phase der Aufregung vorbei ist. Wir haben uns vorgenommen, sehr zurückhaltend zu agieren, keine Inszenierung zu betreiben und den Parteien keine Konkurrenz zu machen.

Kritiker sagen, Ihre Regierung leiste einen Beitrag zur Entpolitisierung, weil sich die Bevölkerung ans Nicht-Politikmachen gewöhne. Können Sie diesem Argument etwas abgewinnen?

Bierlein

Nein. Wir sind Ausnahmezustand und sollen Ausnahmezustand bleiben. Normalerweise bringt die Regierung Gesetze auf den Weg, und das Parlament beschließt sie. Jetzt ist es umgekehrt: Das Parlament beschließt im freien Spiel der Kräfte Gesetze und wir vollziehen. Das ist eine Umdrehung dessen, wie unser Staat aufgesetzt ist. Das ist zulässig, sollte aber kein Dauerzustand sein, weil es nicht den üblichen Spielregeln entspricht.

Die Spielregeln sind aus dem Gefüge geraten. Schon lange vor Ibiza gab es Skandale, oft vorzeitige Neuwahlen. Keine Regierung hat die fünfjährige Legislaturperiode durchgehalten.

Bierlein

Bierlein Brigitte - Figure 3
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2011 kam die Verfassungsbestimmung zur fünfjährigen Legislaturperiode. Ich habe mich damals gefreut. Denn im ersten Jahr findet man sich, im letzten Jahr wird Richtung Wahl geschielt, dazwischen hat man mehr Zeit. Aber keine einzige Regierung hielt fünf Jahre. Das ist kein österreichisches Phänomen - quer durch Europa werden die Regierungsbildungen immer schwieriger. Ich würde mir wünschen, dass die nächste Regierung fünf Jahre hält.

Sie sind Kanzlerin einer Übergangsregierung. Das war Neuland für die Republik. Ihre Devise lautete: verwalten, nicht gestalten. Waren Sie manchmal allzu zurückhaltend? Hätten Sie mehr Akzente setzen können?

Bierlein

Verwalten war die Übereinkunft mit dem Bundespräsidenten. Das bedeutet aber keinen Stillstand: Wir haben 325 Ministerratsbeschlüsse und 174 Verordnungen vorzuweisen, darunter etwa neue Lehrberufe. Aber wir haben keine großen Gesetze vorgeschlagen, auch um die nächste Regierung nicht zu präjudizieren. Wir haben auch gespart, etwa Werbebudgets drastisch reduziert.

Ein automatisches Budgetprovisorium droht, weil es noch keine neue Regierung gibt, die ein reguläres Budget vorlegen könnte. Institutionen wie die Statistik Austria oder das Höchstgericht sind ohne reguläre Führung da, Botschaften müssen nachbesetzt werden. Das von der EU-Kommission urgierte Klimaprogramm stellt nur eine Minimalvariante dar. Die Interimsregierung hielt sich strikt an die Vorgabe, kaum Politik zu machen. Das stieß immer wieder auf Kritik. Die Bundeskanzlerin verteidigt die Zurückhaltung, sagt aber: Sollten sich die Koalitionsgespräche noch länger hinziehen, müsste man überlegen, in Absprache mit dem Bundespräsidenten das Amtsverständnis anders zu definieren.

Klimaschutz, Transparenzgesetze, Regeln für Parteienförderung: Bei diesen Themen wurde gefordert, die Übergangsregierung solle ambitionierter handeln. Hätten Sie mehr machen können?

Bierlein

Können schon, aber es folgt unserem Selbstverständnis, dass wir es nicht taten. Wir haben dazu kein politisches Mandat. Das Klimathema ist sicher ein Schwerpunkt für die nächste Regierung. Man muss gemeinsam mit der Wirtschaft handeln, die durchaus zu Investitionen bereit ist.

Beim Thema Parteienfinanzierung wäre Ihre Interimsregierung unbefangener als Politiker -eigentlich ein idealer Zeitpunkt für eine Neuregelung.

Bierlein

Das mag sein, und es wurde auch überlegt. Allerdings waren wir alles andere als sicher, ob das im Parlament mitgetragen worden wäre. Und mit einem Regierungsvorschlag im Parlament keine Mehrheit zu finden, wäre nicht erfreulich gewesen. Das waren die Gründe, warum wir es nicht gemacht haben.

Ihre Regierung war auch bei Personalbesetzungen überaus zögerlich. Der Direktor der Statistik Austria warf deshalb sogar den Hut.

Bierlein

In der Statistik Austria gibt es eine interimistische Regelung. Aber generell stimmt: Wenn es noch länger keine neue Regierung geben sollte, müssten wir unsere Zurückhaltung bei Personalfragen überdenken. Die Spitze des Verfassungsgerichtshofes ist unbesetzt -diese Entscheidung kann man nicht ewig vor sich herschieben. Möglicherweise müssen wir im Jänner handeln.

Einzelne Minister hielten sich ohnehin nicht zurück. Verteidigungsminister Thomas Starlinger schlug Alarm, das Bundesheer sei bankrott.

Bierlein

Das Verteidigungsressort wurde seit den 1990er-Jahren von wechselnden Regierungen nicht entsprechend dotiert. Da besteht sicher großer Bedarf -allerdings auch in anderen Ressorts, die sich mehr zurückgehalten haben, etwa in der Bildung.

© Walter Wobrazek

Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein in ihrem Büro im Bundeskanzleramt

Starlinger warnte lautstark. Hat Ihnen das gefallen?

Bierlein Brigitte - Figure 4
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Bierlein

Jeder hat einen anderen Zugang. Laut war er nicht, nur entschieden.

Ähnlich entschieden warnte Justizminister Clemens Jabloner. Er sagte, die Justiz sterbe einen langsamen Tod. Ist es so dramatisch?

Bierlein

In der Justiz herrscht Personalmangel, besonders im nichtrichterlichen Bereich. Protokolle dauern lange, weil sie zum Teil nur an einer Stelle geschrieben werden. Dazu kommt eine Pensionswelle. Besonders besorgniserregend ist die Situation im Justizwachebereich, wo es über 100 freie Stellen gibt - und nicht genug Bewerbungen. Nicht zuletzt sind Haftanstalten überbelegt. Wir haben versucht, eine Erweiterung der Justizanstalt St. Pölten auf den Weg zu bringen. Da muss man handeln.

Ihre Übergangsregierung hat wenig gehandelt, sondern hinterlässt vor allem Studien.

Bierlein

Uns war wichtig, faktenbasiert den Istzustand zu präsentieren, damit die nächste Regierung auf etwas aufbauen kann.

In einem Bereich immerhin haben Sie entschlossen gehandelt und das Glyphosatgesetz gekippt.

Bierlein

Da geht es nicht um Inhaltliches, sondern um Formal-Juristisches: Im Prozedere unterlief ein grober Fehler, das Gesetz wurde falsch auf den Weg gebracht. Das hat die EU-Kommission zu Recht beanstandet. Ich kann mir als Verfassungsjuristin nicht vorstellen, ein derartiges Gesetz kundzumachen, das womöglich europarechtswidrig ist. Ich sah keinen anderen Weg, auch wenn das nicht allen Politikern gefällt. Ich bin Juristin und möchte in den Spiegel schauen können.

Seit Ibiza jagt ein Skandal den nächsten. Braucht es strengere Regelungen?

Bierlein

Es kam wirklich viel zusammen. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass sich Politiker zu benehmen wissen. Leider ist das nicht immer der Fall, und damit meine ich nicht nur strafrechtlich Relevantes, sondern auch Verstöße im moralischen Bereich. Vielleicht sollten wichtige Personalentscheidungen im staatsnahen Bereich unter Einbeziehung des Rechnungshofes getroffen werden. Auch wenn das vielleicht abstrus klingt: Wenn diese Vorfälle etwas Positives haben, dann, dass man vorsichtiger wird und mehr nachdenkt.

Der Bundespräsident sagte nach Ibiza: "So sind wir nicht." Hat er recht -oder sind wir angesichts der gehäuften Skandale doch so?

Bierlein

Nein, so sind wir nicht. So viele fantastische und hilfsbereite Menschen wie in Österreich gibt es selten in einem Land. Nur eine kleine Minderheit taucht immer wieder in neuen Skandalen auf.

Der Bundespräsident lobte nach Ibiza auch die Schönheit der Verfassung. Sie dürften die Verfassung im Gegensatz zu vielen anderen sogar gelesen haben.

Bierlein

Mehrfach! Vielleicht nicht jeden Artikel in jeder Zusatzbestimmung.

Ein Lesevergnügen ist sie wohl nicht. Worin besteht ihre Schönheit?

Bierlein

Wenn man bedenkt, dass das Bundesverfassungsgesetz nächstes Jahr 100 Jahre alt wird und in seinen Grundzügen noch immer besteht: Nach dem Zusammenbruch der Monarchie eine derart schlanke, klare Verfassung auf den Weg zu bringen, war eine geniale Glanzleistung, insbesondere von Hans Kelsen.

Ibiza-Video, Misstrauensantrag: Die Krise bedeutete Ausnahmezustand. Ist die Verfassung dafür gerüstet oder braucht Österreich eine neue?

Bierlein

Die Verfassung erwies sich als sehr praxistauglich. Ja, sie wurde oft novelliert, etwa wurde die Menschenrechtskonvention in Verfassungsrang gehoben. Aber sie funktioniert. Vielleicht wäre es schöner, die Grundrechte in einem Regelwerk zusammenzufassen. Darum hat sich der Verfassungskonvent bemüht, wenn Sie sich erinnern.

Mit Grauen, etwa an zähe Diskussionen, ob Gott oder das Nulldefizit oder beide in die Verfassung sollen. Bierlein: Es erwies sich in der Tat als komplex, die verstreuten Regelwerke auf einen Nenner und in moderne Sprache zu bringen.

Ein Teil der Verfassung wurde oft diskutiert: ob die Rolle des Bundespräsidenten nicht zu stark als eine Art Ersatzkaiser festgeschrieben ist.

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Bierlein

Die Bundespräsidentenrolle wurde 1929 in dieser Form definiert. Gerade die Ibiza-Krise bewies, wie wichtig diese Rolle ist. Seither wissen wir alle, warum es einen Bundespräsidenten im Staatsgefüge braucht.

Hätte die Krise eskalieren können, wenn ein Scharfmacher Bundespräsident gewesen wäre?

Bierlein

Wir haben derzeit einen hervorragenden Bundespräsidenten. Aber auch alle Vorgänger haben das Amt neutral und sachlich geführt.

Waren Sie froh, dass Norbert Hofer nicht Bundespräsident ist?

Bierlein

Dazu möchte ich mich nicht äußern.

Sie äußerten sich zu vielem nicht. Fiel Ihnen das schwer? Mussten Sie sich manchmal auf die Zunge beißen?

Bierlein

Ich bin in einem Alter, in dem man sich schon ganz gut zurückhalten kann. Ich hätte mir vielleicht früher schwerer getan.

Gerade wegen Ihrer sonstigen Zurückhaltung fiel auf, dass Sie zwei Akzente setzten: Der eine war der offensiv gepflegte Dialog mit der Zivilgesellschaft. Wollten Sie damit einen Pflock für die nächste Regierung einschlagen?

Bierlein

Ich halte es für überaus wichtig, dass eine Regierung den Dialog mit allen Bevölkerungsgruppen pflegt. Ich habe dadurch interessante Einblicke bekommen. Ein Beispiel: Wir haben ein beeindruckendes Mutter-Kind-Haus besucht, in dem sich engagierte Menschen einsetzen, anderen wieder auf die Beine zu helfen. Diese Engagierten beeindrucken mich -mehr als manche andere, die formal hochrangiger sein mögen. Ich hatte unglaubliches Glück: Ich bin in Österreich geboren, ich konnte studieren, ich hatte alle Möglichkeiten. Ich bin privilegiert und verkenne das nicht. Andere haben es schwerer. Das darf man nie aus den Augen verlieren, gerade als Regierung nicht.

Ist dieses Bewusstsein verloren gegangen?

Bierlein

Ich hatte schon das Gefühl. Niemand sollte zu leichtfertig über andere urteilen, die weniger Chancen hatten. Das wollte ich aufzeigen.

Ihr zweiter Akzent war, dass Sie stets das Thema Frauen und Frauenanteil betonten. Das scheint Ihnen ein echtes Anliegen zu sein.

Bierlein

Das ist mir tatsächlich ein Anliegen: Frauen sichtbar zu machen, überall und in allen Positionen. Eigentlich sollte es heute eine Selbstverständlichkeit sein, dass Frauen dieselben Möglichkeiten, Kompetenzen und Rechte haben, eigentlich sollte man das nicht mehr betonen müssen. Offensichtlich ist es aber immer noch notwendig. Daher ist es für mich ein Wert per se, Frauen sichtbar zu machen.

Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?

Bierlein

Feministin im eigentlichen Sinn nicht, ich war in diesem Sinn nie eine Kämpferin. Als ich in den 1970er-Jahren in der Justiz begann, war der Frauenanteil dürftig. Seither hat sich viel getan. Natürlich ist immer noch viel Luft nach oben, etwa in Aufsichtsräten. In gewissen Bereichen dominiert eine reine Männergesellschaft leider noch immer.

Es wurde viel über Ihren Style geschrieben. Hat Sie das genervt?

Bierlein

Das ist halt so, damit kann ich ganz gut umgehen.

Ihnen schlug viel Wohlwollen entgegen, weil Sie die erste Kanzlerin sind. Überraschte Sie das?

Bierlein

Es hat mich überrascht. Mit einer solchen Sympathiebekundung hatte ich nicht gerechnet, sie hat mich auch gefreut. Und es freut mich für die Sache der Frauen. Ich werde von vielen jungen Frauen und Mädchen angesprochen, die sagen, endlich ist eine Frau an der Spitze der Regierung.

Haben Sie einen Rat für junge Frauen parat?

Bierlein

Ich kann nur von mir erzählen. Ich wollte eigentlich Kunst oder Architektur studieren. Leider fehlt mir für Architektur das dreidimensionale Denken. Und mein künstlerisches Talent war nicht so groß, dass ich damit reüssieren hätte können. Das habe ich bemerkt, als ich zur Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie kam und die Mappen der anderen sah. Die waren wirklich viel besser. Da habe ich wieder eingepackt und bin zur Aufnahmeprüfung gar nicht angetreten. Später wollte ich auf die Filmakademie, weil ich mir Interessanteres vorstellen konnte als Jus. Ich bin aber immer wieder zum Jusstudium zurückgekehrt, weil ich wusste, damit kann man schnell ins Berufsleben eintreten. Und ich wollte unbedingt möglichst rasch auf eigenen Beinen stehen. Wirklich interessiert hat mich Jus anfangs nicht, erst während des Studiums hat es mich "gepackt". Mein Rat an Frauen wäre, wenn sich eine Chance ergibt, diese auch zu ergreifen.

Jus in Mindeststudiendauer absolviert, mit 26 Jahren Richteramtsprüfung, mit 28 Staatsanwältin, mit 41 Generalanwältin: Eigentlich hatte Bierlein mit einer Laufbahn als Künstlerin geliebäugelt, dann aber rasant als Juristin Karriere gemacht. Im Februar 2018 stieg sie zur Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs auf, ebenfalls als erste Frau, dann zur ersten Bundeskanzlerin Österreichs. Als Regierungschefin war sie bei Kultur-und sonstigen Events dauerpräsent, sprach auch oft und klug, aber immer ohne politische Botschaft. Nur eine Message flocht sie bei jeder Gelegenheit ein: Gleichberechtigung. Selbst anlässlich ihres Besuchs bei den Bundesheerhunden in Kaisersteinbruch erwähnte sie den 40-prozentigen Frauenanteil beim menschlichen Personal.

Was werden Sie mit Ihrer Popularität machen? Bei der Bundespräsidentenwahl antreten?

Bierlein

Ich stehe seit 1972 ununterbrochen im Berufsleben, ich habe immer versucht, mein Bestes zu geben. Ich bin 70 Jahre alt, da sind andere längst in Pension. Irgendwann ist es genug. Wir haben mit Alexander Van der Bellen einen hervorragenden Bundespräsidenten, der hoffentlich eine zweite Periode zur Verfügung steht. Ich trete sicher nicht bei der Bundespräsidentenwahl an. Ich freue mich auf mein Privatleben.

Mit welchem Satz werden Sie das Kanzleramt verlassen: "Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut?"

Bierlein

Irgendetwas Originelleres werde ich mir schon einfallen lassen.

© Walter Wobrazek

Erste Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein in ihrem Büro im Bundeskanzleramt

© Walter Wobrazek

Erste Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein in ihrem Büro im Bundeskanzleramt

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

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