Die beste EM-Parade und Österreichs Drama Nur zu 94 Prozent ein Tor

Leipzig · Den spektakulärsten Moment hatte sich das wilde EM-Achtelfinale zwischen der Türkei und Österreich für die 95. Minute aufgespart. Die Parade von Mert Günok ist die beste der EM – mindestens. Für die Rangnick-Elf endet das Turnier am „schlimmsten Fußballabend“ mit dem größtmöglichen Drama.

Baumgartner - Figure 1
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95. Minute: Der türkische Torhüter Mert Günok (r.) pariert den Ball von Österreichs Christoph Baumgartner (M.)

Foto: dpa/Hendrik Schmidt

Als Christoph Baumgartner am zweiten Pfosten tatsächlich nochmal zum Kopfball kommt, reißt Michael Gregoritsch bereits die Arme in die Luft. 2:2, Österreichs Ausgleich in letzter Minute, Verlängerung im EM-Achtelfinale gegen die Türkei – das wilde Spiel in Leipzig sollte seine nächste Wendung erhalten. „Für mich war das eigentlich ein sicheres Tor“, sagte ein nach Worten ringender Gregoritsch im Nachgang. Eigentlich, weil der Kopfball von seinem Nationalmannschaftskollegen eben nicht zum späten Ausgleich führte.

Mit einer spektakulären Parade rettete Mert Günok im türkischen Kasten die 2:1-Führung seines Teams in höchster Not und sorgte dafür, dass die Türkei dank des Doppelpacks von Merih Demiral (1./59.) tatsächlich mit einem Erfolg über den Geheimfavoriten Österreich ins Viertelfinale einzog. Dort trifft das Team von Vincenzo Montella nun am Samstag (21 Uhr) in Berlin auf die Niederlande.

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Freiburgs Stürmer Gregoritsch, der nach Einwechslung den Anschlusstreffer für das Team von Coach Ralf Rangnick erzielt hatte (66.), sprach im Moment des tragischen Ausscheidens in höchsten Tönen über Günoks Reflex. „Das war eine der besten Paraden, die ich jemals gesehen habe. Großen Respekt an den Keeper, einfach unglaublich.“

Statistisch die beste Parade der EM

Ein freier Kopfball aus vier Metern Entfernung auf das Tor, es war die Definition einer „hundertprozentigen“ – im flapsigen Fußball-Jargon vielleicht sogar „tausendprozentigen“ – Torchance. Die gefühlte Größe einer Torchance lässt sich in Zeiten des technischen Fortschritts auf allen Ebenen des Fußballs mittlerweile auch mit einer genaueren Statistik bemessen. Der xG-Wert („Erwartete Tore“) bei Baumgartners Versuch – also die Wahrscheinlichkeit von seiner Position zu treffen – lag bei 0,25.

Noch deutlicher wird es beim Blick auf den sogenannten xGOT-Wert („Erwartete Tore nach Schüssen aufs Tor“). Dieser Wert berücksichtigt nach einem abgegebenen Versuch auch Faktoren wie die Qualität der Chance sowie den potenziellen Einschlag im Tor, und lag im Fall von Günoks Heldentat bei 0,94 – also 94 Prozent. Die Parade war damit nicht nur gefühlt, sondern auch statistisch die beste der EM, wenn nicht sogar mehr.

Denn Rangnick sah sich auf der Pressekonferenz nach dem wilden Schlagabtausch gegen die Türkei gar an den englischen Keeper Gordon Banks erinnert, der in der Vorrunde der Weltmeisterschaft 1970 mit der bis heute so benannten „Abwehr des Jahrhunderts“ einen Kopfball von Pelé entschärfte. „Mit Gordon Banks im Tor ist dann leider auch die letzte große Chance, die wir hatten, nicht ins Tor gegangen“, erklärte der Deutsche und bezeichnete Günoks Abwehr als „unglaublich“.

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Das sah auch Unglücksrabe Baumgartner so, der schon beim Flipper-Tor zur türkischen 1:0-Führung nach 57 Sekunden tragisch involviert war: „Ich glaube, ich mache nicht so viel falsch. Ich köpfe auf den Boden gegen die Laufrichtung, aber es war eine unglaubliche Parade von ihm, da kann man nur gratulieren“, sagte der Leipziger.

Für die Österreicher bleibt nach diesem Drama von Leipzig nur die bittere Erkenntnis, dass sie nach einem starken Turnier doch wieder im Achtelfinale die Segel streichen müssen. Der historische Sprung in das EM-Viertelfinale, der noch nie einem ÖFB-Team gelungen war, ist auch in diesem Jahr ausgeblieben.

Rangnick schwer enttäuscht

Dabei sollte es doch unter Erfolgstrainer Rangnick endlich so weit sein. Der „Professor“ hatte den Fußball im Nachbarland nach seinem Amtsantritt im April 2022 regelrecht wach geküsst und auf eine neue Stufe gehoben. Nach der Pleite an alter Wirkungsstätte in Leipzig war dem ehemaligen RB-Architekten die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. „Für uns war klar, dass die Reise noch länger weitergeht und wir uns in unserem Quartier in Berlin auf die nächsten Spiele vorbereiten“, sagte der 66-Jährige. „Es ist vollkommen klar, dass im Moment eine Enttäuschung und Leere da ist.“

Diese Leere strahlten auch seine Spieler in den Katakomben aus. „Wir haben alles auf dem Platz gelassen. So auszuscheiden, ist von der Tragik nicht zu überbieten. Für mich ist es einer der schlimmsten Fußballabende, die ich je erlebt habe, wenn nicht sogar der Schlimmste“, sagte Gregoritsch. Auch seinem Freiburger Teamkollegen Philipp Lienhart tat „es einfach nur weh, wenn man als bessere Mannschaft ausscheidet.“ Die Leistung habe über 90 Minuten gestimmt.

Auf der Gegenseite übernahm Hakan Calhanoglu, der gegen Österreich gelbgesperrte Kapitän der Türkei, die Rolle des Botschafters und ordnete das Weiterkommen in einem 30-minütigen Interview-Marathon ein. „Ich bin stolz, Kapitän dieser Mannschaft zu sein, wir wollen gegen die Niederlande weiter Gas geben und auch dort unsere Fans glücklich machen“, sagte Calhanoglu, der im Viertelfinale noch ein paar mehr Anhänger im Olympiastadion erwartet. „Wir erfahren eine unglaubliche Unterstützung, die Fans sind überall. In Berlin werden es sicherlich noch mehr sein.“

Dass sich die Türkei den Traum vom Viertelfinale in der Hauptstadt erfüllen konnte, lag nicht zuletzt an Günoks Heldentat und der sechsprozentigen Chance, den Ball zu halten.

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