Als der sozialdemokratische Traum platzte
Klaus Seltenheim hat die Hände verschränkt, das linke Bein wippt leicht, und er presst die Lippen zusammen. Gerade ist ein kollektives „Boahhhhh!“ durch den Raum gegangen, mit schockiertem und frustriertem Tonfall, als der blaue Balken bei der ersten Hochrechnung erst knapp vor 30 Prozent stehengeblieben ist. Das heißt nichts Gutes für den nächsten Balken, den roten, und Klaus Seltenheim muss seine Miene kontrollieren: Der SPÖ-Bundesgeschäftsführer ist der höchstrangige (und vorerst einzige hochrangige) Sozialdemokrat, der um 17 Uhr bei der Wahlparty vor den Kameras steht. Der rote Balken bleibt tatsächlich unterhalb des Ergebnisses von 2019 stehen, es wäre das schlechteste SP-Ergebnis aller Zeiten, und im Raum macht sich Schweigen breit. Klaus Seltenheim neigt den Kopf nach rechts und links. Erst als die Bierpartei laut ersten Prognosen den Einzug in den Nationalrat zu verpassen scheint, nicken einige Gäste erleichtert. Aber die meisten schauen zu diesem Zeitpunkt nur noch zu Boden, einer Frau fließen Tränen über die Wangen.
Als der ORF live aus dem Raum sendet, drehen die Verantwortlichen den Ton der Lautsprecher ab, um den Hall in Grenzen zu halten. Die Genossinnen und Genossen halten ihre „Herz und Hirn“-Schilder hoch und jubeln für die Kamera, sie hören nicht, wie das laut Prognosen schlechteste Ergebnis aller Zeiten der SPÖ besprochen wird. „Ein schwarzer Tag für unsere Demokratie“, sagt Klaus Seltenheim.
„Kann es mir noch nicht erklären“Zwei Fragen schwirren hier auf der Wahlfeier im Volkskundemuseum durch den Raum. Die erste stellen sich die SPÖ-Fans selbst: Warum? Wenn die Prognosen sich bewahrheiten, ist es nicht nur das historisch schlechteste Ergebnis der Partei, sondern erstmals auch Platz drei. Eine Antwort, wie es so weit kommen konnte, weiß hier niemand der Befragten zu geben. „Ich kann es mir echt noch nicht erklären“, sagt jemand mit SJ-Button. Ein Mann am Buffet ist ehrlich überrascht: „In meinem Bekanntenkreis gab es einige, die SPÖ statt Neos gewählt haben, um einen FPÖ-Sieg zu verhindern.“ Die eine ruft „Scheiße, Alter!“ durch den Raum, die andere sagt „Ich hoffe noch, ich hoffe noch.“ Als mögliche Erklärung werden am Ende vor allem zwei Gründe genannt: Die von vielen in der SPÖ geortete negative Berichterstattung über Andreas Babler. Und die parteiinternen Querschüsse.
Die zweite Frage wird den Genossinnen und Genossen von Außenstehenden gestellt: Braucht es einen neuen SPÖ-Chef? Hier haben die Anwesenden eine klare Antwort: Nein. „Ich hoffe, dass Babler bleibt“, sagt auch Vizeklubchefin Julia Herr, die zur Wahlfeier gestoßen ist. Eine Frau ruft ihrem Gegenüber zu: „Wahrscheinlich wäre das Ergebnis viel schlechter ausgefallen, wenn es nicht der Andreas Babler gemacht hätte.“
Am Montag tagen die GremienIm Volkskundemuseum wird am Wahlabend keine Rebellion gegen Babler angezettelt werden. „Es gibt ja auch keine Alternative – wer soll es machen?“ – dies ist noch das Kritischste, das man hier hört. Aber zur offiziellen Wahlparty der SPÖ-Bundespartei kommt auch nur, wer hinter dem Parteichef steht. All jene, die in der Vergangenheit Kritik geübt haben – hohe Funktionäre aus Tirol, Oberösterreich, dem Burgenland – sind in ihren Bundesländern geblieben. Am nächsten Tag müssen einige von ihnen ohnehin nach Wien, denn dann tagen bereits die Parteigremien. Babler klingt am Sonntagabend nicht so, als würde er an einen Rücktritt denken. Er sei es gewohnt, in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen, richtet er seiner Partei aus. Aber bitter ist es schon, für ihn und seine Anhänger: Ein Jahr, nachdem Pamela Rendi-Wagner von den Parteimitgliedern abgewählt wurde, weil man ihr keine Erfolge zutraute, schneidet die Partei laut Hochrechnungen sogar knapp schlechter ab. Je später der Abend wurde, desto dünner wurde das Minus im Vergleich zu 2019.
Um 22:00 Uhr stieß dann auch Andreas Babler zu seiner Party: „I wär net der Andi, wenn ich jetzt mit Politikersprech anfangen würde“, sagt er. „Wir haben alles gegeben, es war eine gute Wahlbewegung.“ Aber: „Wir haben es nicht geschafft, in die Breite zu kommen. Ich hätte mir mehr erwartet.“ Eine Rücktrittsrede ist das aber nicht: „Wir werden daraus lernen und das nächste Mal breiter werden.“ Bis dahin müsse man die Hand ausstrecken, um eine FPÖ in der Regierung zu verhindern: „Helft's mir, dass ich gute Verhandlungen führe.“ Dann stimmt der Raum die Internationale an.
Nachdem der linke Flügel in der Partei endlich einen Kandidaten hat, mit dem sie sich wohl fühlt, werden die Freiheitlichen mit Herbert Kickl erste. Dabei ist Babler betont selbstbewusst in den Wahlkampf gestartet und hat, als Umfragen schon Platz drei voraussagten, noch ein Kanzler-Triell ausgerufen. Können daran, dass es nie so weit kam, wirklich nur die Umstände schuld sein?
Falls diese Frage jemand in der Partei laut stellen will, um Babler zum Rücktritt zu bewegen, müsste der- oder diejenige eine Nachfolge parat haben. Wer Koalitionsgespräche führen will, muss eine klare Führungspersönlichkeit vorweisen können und Stabilität ausstrahlen. Noch dazu hat die SPÖ unter Babler die Wahl der Parteispitze neu organisiert. Ein Misstrauensvotum für den Parteichef würde ein wochenlanges Prozedere nach sich ziehen.
So weit will im Volkskundemuseum heute Abend ohnehin niemand denken. Alle wollen eine Antwort auf die Frage nach dem Warum finden. Zumindest hier, auf der SPÖ-Party – aber mit Andreas Babler.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.