So formte Emery Aston Villa zu einem Top-Team
Wie schaffte es Aston Villa in die Spitzengruppe der Premier League? Einen großen Anteil daran hat der taktische Plan von Trainer Unai Emery.
Giovani Lo Celso schlich sich vom rechten Flügel in die Halbspur, Mittelstürmer Gerard besetzte stattdessen die Außenbahn. Und Alphonso Davies wusste nicht so recht, wohin mit sich, stand zwischen beiden, zwischen Baum und Borke. Daraus - und aus einer Kombination zwischen den beiden, die Arnaut Danjuma veredelte - entstand das 1:0-Siegtor des FC Villarreal im April 2022 gegen den FC Bayern im Viertelfinalhinspiel der Champions League.
Binnen eines Jahres: Aus dem Keller an die Spitze der Premier LeagueWas das mit Aston Villas Höhenflug in der Premier League zu tun hat? Villarreals Trainer hieß damals noch Unai Emery. Jener Coach also, der später den Klub aus Birmingham in prekärer Abstiegsnot im November 2022 übernahm und in die Europa Conference League führte. Aktuell belegt er mit den Villans einen Champions-League-Platz, und die Perspektiven, 2024/25 wieder international dabei zu sein, sind glänzend.
Für Emery ist es der zweite Anlauf in der englischen Eliteliga, sein erster beim FC Arsenal zwischen Juli 2018 und November 2019 war recht bescheiden verlaufen. Wenn in diesen Tagen verstärkt von Handschriften und einer bestimmten Art Fußball die Rede ist, für die dieser oder jener Trainer steht oder eben nicht oder man weiß es nicht so genau, dann muss man sich darüber bei Emery keinerlei Gedanken machen.
Er hat seiner Mannschaft eine klare Idee vermittelt, ein System, das nicht kompliziert, aber dennoch äußerst schwierig zu verteidigen ist. Mit jenem Treffer von Villarreal gegen die Münchner ist dabei schon viel beschrieben, aber nicht alles. Denn mit den Spaniern spielte er damals ein 4-3-3, Villas Grundformation lautet nun 4-4-2. Doch am Prinzip ändert das nichts.
Vor der Viererabwehrkette ist eine flache Vier angeordnet, die hängende Spitze (19, Diaby) spielt um den Stoßstürmer (11, Watkins) herum. kicker
Die Basis des Erfolgs: Räume mit Spielern überladenWie genau funktioniert also das Emery-Konstrukt, das sein Team nicht ständig, aber doch immer wieder anwendet? Den Fußball hat er nicht neu erfunden, denn dass Spieler ihre Positionen verlassen, um andere Räume zu überladen, ist im modernen Spiel längst der Schlüssel zum Erfolg, zumindest dessen Basis.
Pep Guardiola zog als Bayern-Coach vor zehn Jahren zunächst seine Außenverteidiger auf die Sechs, mittlerweile mutiert bei Manchester City ein Innenverteidiger zuweilen zum Achter. Roberto de Zerbi beordert in Brighton seine zentralen Offensivspieler in Richtung der eigenen Sechser, um Platz für Flügelspieler zu generieren. In Tottenham werden unter Ange Postecoglou die Außenverteidiger zu stürmenden Achtern. Und Julian Nagelsmann ließ zu seiner Münchner Zeit die Außenverteidiger in der gegnerischen Hälfte extrem weit einrücken.
Die letzte Linie wird ausgedünntWas all diese Maßnahmen gemeinsam haben: Sie gehen nominell und statisch zulasten der letzten Linie, bei Ballverlust gerne auch Restverteidigung genannt, denn einer aus der Abwehrkette verließ seine Position. Emerys Modell nun weist diesem Viererbund erst mal keine außergewöhnlichen Aufgaben im Aufbau zu: Die Innenverteidiger bleiben innen, schieben etwas breiter, die Außenverteidiger bleiben außen, schieben höher. So wird in einem ersten Schritt aus dem 4-4-1-1 ein 2-4-2-1-1.
Natürlich nahezu parallel passiert aber das: Die beiden Flügelspieler ziehen ins Zentrum, wo sich in der Regel beim Gegner in einem 4-3-3 oder 4-2-3-1 drei zentrale Mittelfeldspieler befinden, wie auch immer angeordnet. Durch die beiden zusätzlichen Akteure erhöht Aston Villa nun seine Anzahl an zentralen Spielern von zwei auf vier.
So weit, so klar? Gut, den Gegnern eigentlich auch. Doch Pascal Groß, dessen Klub Brighton & Hove Albion in der laufenden Saison eine bittere 1:6-Packung im Villa Park bezog, als er fehlte, erläutert gegenüber dem kicker, warum das Ganze für Villas Kontrahenten so schwer zu greifen ist. Der deutsche Nationalspieler sagt: "Sie machen es sehr gut, weil sie es ganz anders als andere Mannschaften spielen: Durch das Einrücken der äußeren Mittelfeldspieler hat der Außenverteidiger des Gegners stets ein Fragezeichen über dem Kopf."
Siehe Davies einst bei Bayern. Aber das nur nebenbei. Groß erklärt das Dilemma, vor dem nicht nur der Kanadier stand: "Geht der Außenverteidiger komplett mit nach innen, öffnet er den Flügel, und Villas Außenverteidiger kann den Ball einfach die Linie entlang spielen. Weil Villa dann mit den zwei schnellen Spitzen Ollie Watkins und Moussa Diaby, Watkins dazu noch körperlich stark, sehr variabel selbst nach außen rückt." So wie damals Gerard.
Was genau ist dann so knifflig für die Innenverteidiger? "Sie müssen", so Groß, "plötzlich riesige Räume verteidigen, eben auch auf dem Flügel, haben aber vor allem in der Regel ein anderes Anforderungsprofil. Das ist unangenehm." Und Plan B des Außenverteidigers, nämlich seine Position zu halten, könnte welche Folge haben? "Dann", zeigt Groß auf, "können sie zwar den Flügel nicht so gut bespielen, haben aber Überzahl im Mittelfeld. Die Außenspieler sind ja zudem auch gar keine klassischen Winger. Sondern dort haben sie mit John McGinn (in den Schaubildern oben die Nummer 7, die Red.) und Nicolo Zaniolo (Nummer 22) oder auch Jacob Ramsey, der dort spielen kann, eher Mittelfeldspieler, die es verstehen, die Räume zwischen den Linien gut zu besetzen. Sie sind clever, ballsicher. Und so kreieren sie eine personelle Überzahl im Zentrum, wenn der Gegner nicht mutig verteidigt. Aber wenn er das tut, dann besetzen sie außen die Räume so, dass sie mit ihren schnellen Leuten Laufduelle provozieren."
So schafft Aston Villa Überzahl in der Mittelfeldzentrale. kicker
Übrigens auch durch nachrückende, hinterlaufende Außenverteidiger. Davies entschied sich damals so richtig für keine der beiden Varianten. Er stach nicht raus, doch dem Wort Tiefenverteidigung wurde sein Verhalten auch nicht wirklich gerecht. Diese Unentschlossenheit bremste seine Handlungsschnelligkeit im Kopf und in seinen eigentlich so schnellen Roadrunner-Beinen.
Dank eines "schiefen" Parallelogramms zu nur 6,8 Torschüssen pro TrefferDer Schlüssel zum Ganzen ist also das Viereck, das "schiefe" Parallelogramm, die Emery-Box in der Mitte, die durch die einrückenden Flügel entsteht. Um dann eben vorne wiederum in die andere Box zu kommen, in den Strafraum. Der Boxing Way, der durch eine hohe Effizienz von nur 6,8 Torschüssen pro Treffer gekrönt wird.
Als Sir Alex Ferguson am 1. Spieltag Aston Villas 1:5-Klatsche bei Newcastle United als TV- Experte begleitete, sagte die Trainerlegende: "Ich kann das Ergebnis nicht glauben. Villa spielt einen fantastischen Fußball." Den Mut, so etwas nach diesem Resultat zu äußern, hat nur jemand, der den Plan dahinter erkennt. Dass dieser Plan eben auch schiefgehen kann, steht außer Frage. Denn Villa ist von seinen Einzelspielern immer noch Villa und kein Champions-League-Favorit. Aber Emery hat jeden einzelnen Profi besser gemacht.
Ich kann das Ergebnis nicht glauben. Villa spielt einen fantastischen Fußball.
Sir Alex Ferguson als TV-Experte
Während in Ballbesitz das 2-4-2-2, das letztlich manchmal entsteht, nur eine Variante ist - es kann auch mal ein 3-2-4-1 sein zum Beispiel -, gibt es gegen den Ball eine klare 4-4-2-Grundordnung. Das Besondere: Villa formiert dabei eine hohe Pressinglinie - ohne hoch zu pressen. Heißt: Sie lenken, verschieben, verdichten das Zentrum und provozieren irgendwann den langen Ball. Doch weil natürlich nicht nur die vorderste Linie hoch steht, sondern das ganze Team im Verbund, ist die Abwehrkette so hoch positioniert, dass kein Team seine Gegner öfter ins Abseits gestellt hatte nach 16 Partien als Aston Villa: 75-mal. Auf Platz 2: Tottenham mit 51 erfolgreichen "Abseitsfallen".
Sinnbildlich für Villas Stärken war neulich der 1:0-Erfolg gegen ManCity: 22 Torschüsse gaben die Hausherren ab, so viele musste ein Guardiola-Team noch nie hinnehmen. Ein Schlüssel dazu waren auch 13 hohe Balleroberungen, unter anderem durch starkes Zustellen der Räume. So oft hatte City unter Guardiola noch nie die Kugel im ersten Drittel verloren.
Die besagte Gefahr durch sich einschaltende Außenverteidiger spiegelt sich auch darin wider, dass ligaweit von Lucas Digne die meisten Flanken geschlagen werden (89 nach 16 Partien). Und wie wichtig der Ex- Leverkusener Leon Bailey ist, wenn er dem reinen Flügelspiel eine noch offensivere Note verleiht, belegen acht Scorerpunkte in seinen jüngsten sieben Heim-Auftritten.
Wohin all das führt? Abwarten. Aber ob nun Villarreal oder Villa - Hauptsache Boxing Way, Hauptsache Unai Emery, der Villa vor den traditionsreichen Spielen am zweiten Weihnachtsfeiertag auf Platz 3 (einen Punkt hinter Spitzenreiter Arsenal und nach Zählern gleichauf mit Liverpool) geführt hat.
Thomas Böker