Antisemitismus in Österreich: „Zeigt eure Flagge bitte nicht zu ...

4 Stunden vor

In Wien sollen sich Juden und Jüdinnen in Acht nehmen. Man sollte meinen, das Gedächtnis Österreichs wäre ein wenig ausgeprägter.

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Am 7. Oktober 2024 fand eine Gedenkveranstaltung der Israelitischen Kultusgemeinde anlässlich des ersten Jahrestages des Terrorangriffs der Hamas auf Israel in Wien statt.  APA / APA / Georg Hochmuth

Dass das Judentum seit Beginn der Zeit eine weltweite Faszination erlebt, lässt sich kaum bestreiten, Antisemitismus hingegen ist ein gestaltwandelnder Virus, um den Autor Douglas Murray zu zitieren. Mal wurden Juden und Jüdinnen für ihre Armut gehasst, dann wiederum für ihren Reichtum. Sie wurden verachtet, als sie kein Land hatten, und nun noch viel mehr, seit sie ihres zurückbekamen.

Ein Jahr nach dem größten Anschlag auf jüdisches Leben seit der Shoah werde ich Zeuge der Gedenkfeier am 7. Oktober, die den Opfern dieses Terroranschlags und den verbliebenen Geiseln galt. Es sind Familienangehörige der Betroffenen anwesend und teilen rührende, persönliche Geschichten mit der Öffentlichkeit. Politiker:innen drücken ihre Beileidsbekundungen aus, der Wiener Jüdische Chor begleitet den Abend und verabschiedet die Gäste mit Shalom Aleichem. Ein weiterer, nicht zu übersehender Gast ist anwesend: die Polizei. Und das an jeder offenen Seite des Ballhausplatzes, zu je ein paar Streifen mit ausgestatteten Fahrzeugen. Jede und jeder in Blau bis aufs Schwerste bewaffnet. Durch die Menge patrouillieren Männer in leicht versteckten, schusssicheren Westen mit Kabeln im Ohr.

Das Ende der Veranstaltung ziert die explizite Warnung: „Liebe Gäste, es wäre unklug, euch diese Warnung nicht mitzuteilen: Wenn ihr über den Stephansplatz geht, zeigt eure Flagge bitte nicht zu offensichtlich.“ Gesprochen wird dies schweren Herzens, gemeint ist natürlich die Flagge Israels. Eine an die Tallit erinnernde Flagge, die in der Mitte den Magen David trägt und deren Ursprung sich auf lange vor der Ausrufung des Staates Israels zurückführen lässt. Rund 70 Jahre nach dem größten Gewaltverbrechen an der jüdischen Bevölkerung Europas werden in einem Land, dessen Historie großen Anteil an diesen Gräueltaten trägt, Juden und Jüdinnen wieder dazu aufgerufen, sich zu verstecken, zu ihrer eigenen Sicherheit. Man führe diesen Gedanken fort, dieses „sich zur eigenen Sicherheit Verstecken“. Vor wem verstecken? Was passiert denn sonst? Haben sich jüdische Bürger:innen in der zweiten Republik Österreich, einem Land, das geschworen hat, etwas Derartiges wie den Holocaust nie wieder geschehen zu lassen, vor irgendjemandem zu fürchten?

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Das weitverbreitete Argument kommt folglich auf: „Es werden nur die Taten eines gewissen, (ganz nebensächlich einzigen) jüdischen Staats im Nahen Osten geächtet“. Ungeachtet, wie hochkomplex die gesamte Angelegenheit sein mag, sehr schnell scheinen sich Meinungen zu dem Thema gefestigt zu haben und beharren darauf, Recht zu behalten. Nicht außer achtzulassen ist die Tragweite der sozialen Medien in Bezug auf (Fehl)Information über diesen Krieg. Brutale, tragische Bilder machen in Windeseile die Runde. Und natürlich, wie kann man in Anbetracht solch herzzerreißender Bilder nicht urteilen. Leider bleibt es in diesem Prozess des Urteilens bei der Windeseile. Ein kurzer Beitrag auf Instagram, ein Video, ein Foto, ein Zitat ohne Verweis und schon lassen sich die Geschehnisse einem Sündenbock zuschreiben, einem Sündenbock bestehend aus abertausenden individuellen Leben. Zahlen zu relativieren, ist hier fehl am Platz.

Was die Menschen bewegt, und was nicht (mehr)

Der durch KI generierte Beitrag „All Eyes on Rafah“ stellt ein exzellentes Beispiel dessen dar. Sehr viele Menschen, und ich kenne genug davon persönlich, haben diesen Beitrag geteilt. Ich maße mir an, zu behaupten, dass die überwiegende Mehrheit davon keine weitergehenden, detaillierten Nachforschungen darüber angestellt hat, was das eigentliche Ziel, der Ausblick und das Ergebnis der besagten Operation war. Das bringt uns nun wieder an den Anfang: Das Judentum scheint für viele sehr „interessant“. In den umliegenden Ländern gibt es sehr lange keine Juden und Jüdinnen mehr, und doch starben rund 800.000 Menschen in Syrien in den letzten zehn Jahren. Aus dem Irak gibt es ähnlich hässliche Berichte, ebenso über den zurzeit herrschenden Bürgerkrieg im Jemen. Menschenrechtsverletzungen gab und gibt es dort zur Genüge. Und doch hört man davon so gut wie gar nichts. Wer trägt dort die Schuld?  

All das soll keine etwaigen Menschrechtsverletzungen entschuldigen oder rechtfertigen, es soll einzig und allein in den Fokus rücken, was die Menschen bewegt und was nicht (mehr). Die Ukraine scheint schon lange nicht mehr „interessant“ oder „aktuell“. Wer waren noch gleich die Uiguren in China? Was ist mit den neuesten Entwicklungen bezüglich der Frauenrechte in Afghanistan? Die einzige Demokratie im Nahen Osten, mit einer bekanntlich stark gespaltenen Bevölkerung, interessiert die Leute einfach mehr. Aber in einer anderen Demokratie, im Herzen Europas, mag es nicht anders sein. In der Innenstadt der Hauptstadt Österreichs sollen sich Juden und Jüdinnen in Acht nehmen. Mitunter vor einer zu voreilig geformten Meinung, einem zu schnell erhobenen Finger? Man sollte meinen, das Gedächtnis Österreichs wäre ein wenig ausgeprägter, standhafter, um nicht zu erkennen, wo all das schon einmal hingeführt hat.

Der Autor:

Elias Ortner studiert Wirtschaft und Sozialwissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien. In seiner Freizeit setzt er sich mit der Geschichte und Gegenwart von Antisemitismus auseinander und verfolgt die Entwicklungen im Nahen Osten.

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