„Anora“ im Kino: Was guckst du so sensibel, Schläger?

Auf wie elegante Weise man die Maxime vom „zeigen statt behaupten“ im Spielfilm umsetzen kann, lässt sich derzeit bei wenigen Regisseuren besser beobachten als bei Sean Baker. In „The Florida Project“ (2017) etwa sah man die kleine Moonee immer wieder in der Badewanne mit ihren Puppen spielen. Laute Musik hüllte die Szene ein. Das Baden kam abrupt zwischen zwei anderen Erzählsträngen vor, nahm aber genug Zeit ein, um zu vermitteln, dass das Bild vom Mädchen in der Wanne für die Handlung noch wichtig sein würde. Als man Moonee zum zweiten Mal planschen sieht, fragt man sich, was dahintersteckt. Beim dritten Mal dämmert es den Zuschauern, dass das Kind immer dann im Badezimmer versteckt wird, wenn seine alleinerziehende Mutter sich einen Freier ins Motelzimmer geholt hat, weil das Geld für Essen und Miete nicht mehr ausreicht.

Anora - Figure 1
Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Baker nimmt in seinen Filmen immer Menschen in den Blick, die in Amerikas leuchtender Konsumgesellschaft am Existenzminimum herumkrebsen, einen Ausweg aus der Armut suchen und als einzige Ware nur noch ihren Körper anzubieten haben: „Tangerine“ (2015) folgte einer Prostituierten, „Red Rocket“ (2021) einem verarmten Pornostar und Bakers neuester Film „Anora“ nun einer Striptänzerin, die von einem jungen Oligarchensohn ein unmoralisches Angebot erhält und alles daran setzt, mit ihm ein neues Leben zu beginnen.

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Ivan lädt die Tänzerin zunächst in eine Villa ein, die seinen Eltern gehört. Anora staunt über die Aussicht, die große Wohnzimmerfenster eröffnen. In ihrem Blick, der lässig übers Interieur schweift, schwingt der kurze Traum mit, sich immer in solchem Luxus bewegen zu können. Als Ivan ihr zehntausend Dollar anbietet, damit sie ihm für eine Woche zur Verfügung steht, handelt sie ihn auf fünfzehntausend Dollar hoch, packt zuhause eine Sporttasche und zieht bei ihm ein. Aber schon beim ersten Treffen der beiden legen Gesten und Gesichtsausdrücke eine weitere Bedeutungsschicht über die Handlung. Wenn Ivan nach dem Sex kifft und darüber fast vergisst, was er jetzt mit der Frau neben sich anfangen soll, lächelt Anora ganz professionell weg, dass sie hier wie ein Spielzeug vom reichen Kind zur Seite gelegt wird.

Spiel mit doppeltem Boden

Mikey Madison spielt ihre Anora mit doppeltem Boden. Wenn Ivan sie mit seinen Freunden nach Las Vegas ins Kasino ausführt, sagt ihr Gesicht, sie habe Spaß am Roulette, während ihre Augen sich für Millisekunden schockiert weiten, wenn tausende verlorene Dollar vom Spieltisch gefegt werden. Sie ist Profi darin, Männern das Gefühl zu geben, dass es keine Probleme auf der Welt gibt. Sie ist aber auch klug genug, um zu wissen, dass die Situation mit Ivan zu schön ist, um wahr zu sein und dass sie sich selbst belügt, wenn sie etwas anderes vorgibt. In jedem Blick flackert also auch immer kurz schon ein Bild des Abgrunds auf, auf den das alles unweigerlich zusteuert. Als Ivan sie fragt, ob sie ihn heiraten wolle, weil er mit einer Greencard-Ehe dem Zugriff seiner russischen Eltern entgehen könne, sagt sie ja. Ihr Mund redet von Liebe, in ihren Augen blitzt der eiserne Wille auf, dieses goldene Ticket für sich zum Vorteil zu nutzen.

Madison zeigte ihre Fähigkeit, innerhalb von Sekunden zwischen Emotionen wechseln zu können, bislang als ein dem Irrencharme von Charles Manson verfallenes Mädchen in Quentin Tarantinos „Once upon a time in Hollywood“ (2019) und als manipulierende Mordplanerin im fünften Teil der Horrorfilmreihe „Scream“ (2022). Das waren Nebenrollen zum Aufwärmen. Als Anora spielt sie sich in die erste Liga Hollywoods. Die Vielschichtigkeit ihres Spiels, gepaart mit komplettem Körpereinsatz, sieht man sonst nur noch bei Emily Stone. Und „Anora“ verlangt Madison sehr viel Körperlichkeit ab, sei es gleich zu Beginn des Films, wenn sie als Tänzerin das glitzernde Lametta-Haare schwingt, oder nach rund 45 Minuten, wenn die Handlung von Romantik- zu Tragikomödie kippt. Denn natürlich sind Ivans Eltern alles andere als begeistert von der Spontanhochzeit des Sprößlings und engagieren einen armenischen Priester sowie zwei Handlanger, um das Paar zur Annullierung der Ehe zu bewegen. Als das Trio in die Villa eindringt, flieht Ivan. Anora aber verteidigt sich gegen die Gorillas mit Händen und Füßen – und bringt Slapstickhumor in diese lange Kampfszene. Sie kickt, bis einem die Nase blutet. Sie schreit mit der Wucht einer Sirene, so dass die Männer, wie Odysseus, zu drastischen Mitteln greifen müssen. Und sie schreckt auch nicht davor zurück, die teuren Familienerbstücke aus Porzellan als Wurfgeschosse zu Verwenden. Die zierliche junge Frau hält also drei starke Männer in Schach. Wer Anora bis hier noch nicht verfallen war, liebt sie spätestens jetzt. So viel unbändiger Widerstandsgeist lässt selbst den angeheuerten Schläger Igor (Yura Borisov) „Fucking impressive“ murmeln.

Igor ist die zweite Figur, die man sofort ins Herz schließt, denn Typen wie ihn, geradeheraus, selbstbewusst und trotzdem anständig, gibt es in Filmen kaum noch (von der Wirklichkeit zu schweigen). Wie Anora hat er keine Angst vor jemandem, nur weil der reicher oder mächtiger ist. Wie sie setzt auch Igor seinen Körper ein, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nur verkauft er seine Fäuste nicht auf der Tanzfläche, sondern eben an den Meistbietenden für Prügeldienste. Das heißt jedoch nicht, dass er für das Geld auch sein Herz und Hirn versklavt. Die Blicke aus diesen intelligenten blauen Augen sehen und verstehen mehr, als seine Umwelt dem Schläger zutraut. Baker richtet es so ein, dass die Kamera die Blickachsen registriert, mit denen Igor und Anora über Bande spielen. Borisovs Figur hat nicht viel Text. Den braucht der Schauspieler aber auch nicht, um zu zeigen, was Igor denkt, wie er die Situation bewertet, wie ihm immer mehr missfällt, was die Oligarchenfamilie der jungen Frau antut und wie seine Bewunderung für deren Mut zunehmend wächst.

„Anora“ ist lustig und traurig, sexy und brutal. Es ist ein Märchen, das viel über die Realität erzählt, und ein Liebesfilm ohne Kitsch, bei dem man bis zur letzten Minute wider besseres Wissen hofft, dass alles doch noch gut ausgehen möchte.

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