Einen solchen Start wünscht man nicht einmal seinen Feinden. Der neue Chef der österreichischen Sozialdemokratie, Andreas Babler, war zunächst der große Verlierer der Kampfabstimmung auf dem Parteitag am letzten Samstag. Und 48 Stunden später dann doch der Sieger. Schuld an der Verwirrung war ein falsch programmiertes Excel-Sheet, in das die Genossinnen und Genossen der Wahlkommission die ausgezählten Stimmen eintippten – einmal 317 für Babler, einmal 280 für seinen Konkurrenten, den Landeshauptmann des Burgenlands, Hans-Peter Doskozil. Man hätte die Wahlzettel auch ganz altmodisch auszählen können. Aber man vertraute lieber dem Computer, ohne nachzuprüfen. Erst am folgenden Montag wurden die Stimmen erneut ausgezählt, nachdem aufmerksamen Beobachtern aufgefallen war, dass beim Endergebnis etwas nicht stimmen konnte. Es waren nämlich nicht nur die Kandidaten verwechselt worden, es fehlte auch noch eine Stimme.
Ironischer geht es nicht. „Und diese Partei will den nächsten Kanzler stellen, wenn sie nicht einmal korrekt eine Vorsitzendenwahl auszählen kann?“ Bemerkungen wie diese waren noch die freundlichsten. In den sozialen Medien ging das Bild eines Schuppens mit Rechen viral, dazu der Slogan: „Rechenzentrum der SPÖ“. Im ersten Schock des Algebra-Chaos ging unter, wen die SPÖ auf ihrem Sonderparteitag da eigentlich zu ihrem neuen Chef gekürt hatte: Mit Babler, bis dato nur bekannt als beliebter Bürgermeister der niederösterreichischen Kleinstadt Traiskirchen, die Österreichs größtes Erstaufnahme-Flüchtlingslager beherbergt, übernimmt nämlich ein deklariert austromarxistischer, linker Außenseiter die krisengeschüttelte Partei.
Sein Konkurrent Doskozil stand für den dänischen Weg: mit Law and Order bei Integration und Migration sowie sozialstaatlichem Etatismus in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Babler gilt als Basislinker, er nannte sich im über zehn Wochen andauernden innerparteilichen Wahlkampf stolz „Marxist“ und träumte von einem „Systemwechsel“. Und er ist vor allem eines: ein mitreißender Redner mit ordentlichem Retro-Drall. Gerne erzählt er seine Sozialisationsgeschichte, als Arbeiterkind, als Schwerarbeiter im Reifenwerk Semperit, im Arbeitskampf gegen die Schließung des Standorts. Dann beschwört er meistens die große Tradition der österreichischen Sozialdemokratie unter ihrem wichtigsten Vorsitzenden Bruno Kreisky. Kreisky, ein im schwedischen Exil geprägter Sozialdemokrat, regierte von 1970 an 13 Jahre das Land und wird unter Austro-Roten immer noch ehrfurchtsvoll „Sonnenkönig“ gerufen. Aber diese Glanzzeiten sind eben auch schon eine ganze Weile her.
Babler hat aber auch die Bände der Soziologen Didier Eribon und Oliver Nachtwey gelesen. Zumindest spricht er viel über Stolz und Macht der Arbeiterschaft und über Systemerhalterinnen im von Lieferketten, Digitalisierung und Globalisierung bestimmten Klassenkampf in Zeiten der „Abstiegsgesellschaft“. Einer seiner Lieblingssätze lautet: „Wir sind keine Bittsteller.“ Er sagt auch: „Wir holen uns den Respekt, der uns zusteht, wir träumen und setzen um!“ „Unsere Leut’“, auch das ist eine der Babler’schen Standard-Formulierungen, also sein Klientel, das sind nicht die „Schwachen“, keine wehrlosen Opfer, sondern Menschen, die gegen Ungerechtigkeit und den Kapitalismus aufbegehren. Was in Europa als gängiger Linkspopulismus gilt, ist in Österreich eben noch eher ungewohnt.
Was in Europa als gängiger Linkspopulismus gilt, ist in Österreich eben noch eher ungewohnt.
Kann das gut gehen? Ist einer wie Babler die richtige Antwort auf die rechtspopulistische Bedrohung? Diese Fragen stellen sich jetzt viele Beobachterinnen und Beobachter in Wien. Denn das Land steht an der Schwelle zum Orbanismus. Die rechtspopulistische, in Schattierungen auch rechtsextreme FPÖ liegt in allen veröffentlichten Umfragen auf Platz 1, bei etwa 30 Prozent. Dahinter, abgeschlagen, die SPÖ und die regierende ÖVP bei rund 25 Prozent. Vergessen der Ibiza-Skandal, der die FPÖ aus der Regierung warf und sie ihren charismatischen Parteichef, Heinz-Christian Strache, kostete. Vier Jahre später ist Straches Nachfolger Herbert Kickl, ein blendender Rhetoriker, aber keiner, der begeistert, auf dem Sprung ins Kanzleramt.
Regulär gewählt wird zwar erst im Herbst 2024, aber die roten Turbulenzen lassen Gerüchte über Neuwahlen in Wien nicht abreißen. Die regierende ÖVP hat sich zuletzt in drei Landesregierungen mit der FPÖ zusammengetan, es ist davon auszugehen, dass sie es auch im Bund wieder tun wird. Will Babler mit der SPÖ zurück an die Macht, muss er nicht nur Erster werden, sondern so stark, dass er mit den anderen Parteien im Mitte-links-Spektrum eine Mehrheit erreicht. Das sind die Grünen und die Liberalen (die Neos). Zu rechnen ist auch mit der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), die immer noch so heißt und nach Wahlsiegen in Städten wie Graz und Salzburg vorsichtig darauf hoffen darf, nach mehr als 60 Jahren wieder in den Nationalrat einzuziehen.
Österreichs politische Landschaft wird also volatiler – und polarisiert sich. Für viele überraschend, hatte Bablers Rivale Doskozil gleich nach seinem vermeintlichen Sieg bei der Kampfabstimmung eine eindeutige Koalitionsansage gemacht. Er wollte nach den nächsten Wahlen eine Ampelkoalition mit den Neos und den Grünen anführen. Babler ist vorsichtiger, er lässt sich auch die Option einer Großen Koalition offen, auch wenn sie in der SPÖ kaum, und in der ÖVP derzeit wohl überhaupt nicht beliebt ist.
Lagerwahlkämpfe mit klaren Koalitionsabsichten haben in der Alpenrepublik, die lange nur in der Kategorie der Großen Koalition gedacht hat, keine Tradition. Normalerweise lässt man sich alle Optionen offen, nur die rechtspopulistische FPÖ wurde von der SPÖ über Jahrzehnte hinweg als Koalitionspartner prinzipiell ausgeschlossen. Das war ethisch richtig, machtpolitisch eher weniger. Einen vergleichbaren Lagerwahlkampf erlebte Österreich erst einmal, das war im Jahr 2016. Damals ging es allerdings um das Amt des Bundespräsidenten. Der grüne Kandidat Alexander Van der Bellen gewann in einer Stichwahl gegen den Konkurrenten der FPÖ. Hinter Van der Bellen versammelten sich damals nicht nur Grüne, SPÖ, liberale und christlich-soziale Kräfte, sondern auch viele Bürgerliche, denen das Liebäugeln ihrer Partei mit den Blauen missfiel.
Will Babler gewinnen, muss er also auf das Entstehen einer solchen Anti-FPÖ-Koalition setzen. Aber schafft es ein deklarierter Linker wie Babler, eine Mehrheit links der Mitte aufzubauen? Oder saugt er nicht eher den Kommunisten und den Grünen Stimmen ab, womit sich die ohnehin schwache österreichische Linke untereinander kannibalisierte? Eine parlamentarische Mehrheit links der Mitte gab es das erste und das letzte Mal nämlich nur in den von Babler so gerühmten Kreisky-Jahren. Das Land tickt strukturell rechts, die autoritäre, anti-liberale und EU-skeptische Grundhaltung ist in zahlreichen Studien belegt. Ungarn lässt grüßen.
Das Land tickt strukturell rechts.
Ob Babler der richtige rote Kanzlerkandidat ist, darüber scheiden sich deshalb die Geister. Weniger Zweifel gibt es darüber, dass der bullige Mann, Typ Gewerkschaftsführer, der stets ohne Krawatte auftritt und viele Funktionärsjahrzehnte auf dem Buckel hat, der richtige Chef für eine schwer irritierte Partei ist. Wobei Österreichs Genossinnen und Genossen derzeit vor allem einfach nur erleichtert sind, dass sie überhaupt jemanden fix an ihrer Spitze haben.
Denn Bablers Kür ging ein in der Geschichte der Sozialdemokratie beispielloses Machtgezerre voraus. Österreichs Innenpolitik sei wie „House of Cards für Arme“, scherzte der Ex-SPÖ-Chef Christian Kern einmal. Damals konnte er noch nicht ahnen, dass die roten Kabalen die beliebte US-Politthriller-Serie an Twists und Spannung noch überholen würden.
Drei Parteivorsitzende in fünf Oppositions-Jahren, diese Bilanz steht schon für sich. Bablers Vorgängerin Rendi-Wagner war eine sachkundige Quereinsteigerin. Die Ärztin war zuerst Gesundheitsministerin und musste die Partei im Herbst 2018 eher ungewollt übernehmen, nachdem ihr Vorgänger Kern entnervt das Handtuch geworfen hatte. Das harte Oppositionsgeschäft lag Rendi-Wagner aber nicht, die Partei wurde nicht recht warm mit ihrer distinguierten Art. Eine gute Expertin, aber keine gestandene Politikerin – dieses Urteil hörte man am Ende allzu oft.
Hans-Peter Doskozil, Landeshauptmann des östlichsten und kleinsten Bundeslands in Österreich, des Burgenlands, schoss über Jahre quer. Kaum ein Monat verging, in dem er seiner Parteivorsitzenden – übrigens die erste Frau an der Spitze der SPÖ – nicht ausgerichtet hätte, wie es besser ginge. Im Frühjahr reichte es Rendi-Wagner, und sie forderte Doskozil zum Duell: Er soll sich einer Kampfabstimmung auf einem Sonder-Parteitag stellen. Doskozil wollte das aber nicht und erzwang eine Mitgliederbefragung über die Parteiführung. Für Österreichs Genossinnen und Genossen war das ein Novum. Anders als in Italien, Deutschland, Frankreich oder England gab es bis dato keine basisdemokratischen Mitbestimmungsprozesse. Babler stieg als Überraschungskandidat ins Rennen ein und landete knapp hinter dem siegreichen Doskozil. Die amtierende Parteichefin schaffte nur Platz drei und trat daraufhin zurück. Auf dem eingangs beschriebenen Sonderparteitag kam es zum finalen Showdown zwischen den beiden verbliebenen Alphas – samt fatalem Rechenfehler.
Und jetzt? Bablers Herausforderungen als neuer Parteichef könnten größer nicht sein. Die Partei ist zerstritten und verwundet, die Aussichten bei Neuwahlen derzeit düster. Während der Bewerbungsphase war es ihm ganz gut gelungen, eine „Babler-Bewegung“ zu initiieren. Zahlreiche Prominente stellten sich hinter ihn, darunter auch viele Intellektuelle und Künstler. Mehr als 10 000 neue Parteimitglieder registrierten sich, die meisten von ihnen, um den Alternativ-Kandidaten mit dem sozialen Herzen und dem Traum von einer gerechteren Welt jenseits des Turbokapitalismus zu unterstützen. Jetzt muss Babler liefern, und das rasch – jenseits von Floskeln wie der, „der Partei Einigkeit, Stolz und Würde zurückzugeben“, oder: „Das Comeback der Sozialdemokratie startet hier und heute.“
Eine konkrete Reform hat er schon angekündigt. Beim nächsten Mal soll der oder die Parteivorsitzende von den Mitgliedern gewählt sowie Koalitionsabkommen ebenfalls der Basis vorgelegt werden. Excel freut sich schon.