"Alter weißer Mann" von Simon Verhoeven - Im Kino - Filmkritik von ...
"Träumen darf die Seele doch alles, was sie will", sagt die Therapeutin (Denise M'Baye) bei der gemeinsamen Sitzung zu Heinz Hellmich (Jan Josef Liefers), der ihr einen seiner Träume beschrieben hat: Mit nacktem Oberkörper reitet er auf einem Pferd, Karl Mays Apachen-Häuptling Winnetou gleich, über eine Steppe und breitet dabei selbstzufrieden seine Arme aus. Ist das schon kulturelle Aneignung? Exotisierung? Eine problematische Fantasie? Hellmich ist aufgeregt und nervös, denn in letzter Zeit regt sich überall Widerspruch gegen seine Ansichten, die Art, wie er spricht, seine Kaffeetasse mit der Aufschrift "Ich Boss, du nix", mit der er beim Bewerbungsgespräch einem Interessenten gegenübersitzt, der sich hiervon getriggert fühlt.
Hellmich ist regionaler Vertriebsleiter bei der Fernfunk, einem etwas in die Jahre gekommenen Unternehmen, das seinerzeit maßgeblich das Fax in Deutschland auf den Weg brachte. Eine aktuelle Werbekampagne des Betriebs sorgt auf Social Media für einen Shitstorm: In einer Reklame für einen neuen Tarif ist ausgerechnet die einzige Person, die nicht als weiß und cis-hetero gelesen wird, ein Kellner, der die abgebildeten Pärchen bedient. Die geäußerten Rassismusvorwürfe sind mit dem Hashtag #strammdeutsch verbunden, eine rufschädigende Anschuldigung, die auch dadurch nicht relativiert wird, dass wohl gerade mal rund 80 Personen auf die Kampagne reagiert haben, es sich also wohl eher um eine Shitbrise, ein Shitstürmchen handelt. Fernfunk-Leiter Dr. Steinhofer (Michael Maertens) möchte das Image seines Unternehmens aufhübschen und engagiert eine Unternehmensberaterin (Yun Huang), die eine strategische Neuaufstellung entwerfen soll, sowie einen Technology Consultant (Elyas M'Barek), der eine KI-basierte App für das Unternehmen kreiert, die in der Form eines an Emoticons angelehnten Gesichts die Selbstoptimierung der Mitarbeitenden tatkräftig unterstützt. Hellmich soll zum Vertriebsvorstand befördert werden, um zukünftige Kampagnen nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, obwohl er "rein quotentechnisch eigentlich ein Albtraum" ist.
Diese Hauptfigur in Simon Verhoevens "Alter weißer Mann" spielt Liefers so jovial wie spillerig als einen Diskursgeschädigten in Cordjacke, der die eigene Wut so weit internalisiert hat, dass nur noch die Oberlippe unterhalb des altmodisch kräftigen Schnurrbarts zu beben beginnt - als eine klassische Komödienfigur also, die zu charmant und quirky gezeichnet wird, als dass sie wirklich unsympathisch wirken könnte. Toxisches Benehmen? Nur eine Frage der Einstellung, und die lässt sich letztlich mühelos verändern. Wie bereits in "Willkommen bei den Hartmanns", seinem filmischen Durcharbeiten der Flüchtlingskrise 2015/2016 als versöhnlerische Familienkomödie, setzt Verhoeven auf Pointen, die wohl so etwas wie abgekürzte Lösungsvorschläge zu unzureichend verstandenen Problemen sein sollen: Filme machen als kurzweiliges Social Engineering. Dabei landet er wiederum alsbald dort, wo deutsche Komödien seit Langem - möglicherweise längst irrig - das Zentrum gesellschaftlichen Dissenses vermuten: am familiären Esstisch.
An den setzt sich der Film über eine nicht unbeträchtliche Laufzeit sprichwörtlich und diskutiert. Bei einer abendlichen Mahlzeit präsentiert Hellmich sich in einem Akt der geglückten Selbstsuggestion seiner Familie und seinen Arbeitskollegen gegenüber als ein lernwillig Therapiebedürftiger, der in der Selbsterkenntnis bereits seine eigene Heilung vorwegnimmt, wieder öfter seine "Black-Music-Platten" hören möchte und die taz abonnieren will. Eine solche Diskurskomödienwelt kennt möglicherweise keine wirklichen Konflikte, aber sie weiß um die aussöhnende Wirkung von ausgeglichenen Kompromissen: "Ich habe doch safe eine andere Meinung als du, das ist doch auch okay." In einer letzten Einstellung gelingt Verhoeven eine ingeniöse Spiegelung und Apotheose seiner Kleinbürgerfantasie: Hellmich, der träumende Reiter durch die Steppe, steht barfuß in seinem Garten, schließt die Augen und breitet wieder die Arme aus. Winnetou ist endlich heimgekehrt.
Kamil MollAlter weißer Mann - Deutschland 2024 - Regie: Simon Verhoeven - Darsteller: Jan Josef Liefers, Elyas M'Barek, Nadja Uhl, Roxanne Rittmann, Meltem Kaptan, Denise M'Baye - Laufzeit: 114 Minuten.