Andrew Haigh - „All of Us Strangers“ im Kino: Fremde in der Nacht

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Stand: 07.02.2024, 16:29 Uhr

Von: Daniel Kothenschulte

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Andrew Scott als immer mal jenseitiger Adam.

Andrew Scott als immer mal jenseitiger Adam. © dpa

Andrew Haighs „All of Us Strangers“ ist ein betörender Film über Trauer und Verlust.

Das Kammerspiel, das im Weimarer Stummfilm seine erste Blüte erlebte, blieb ein Stiefkind des Kinos. Für Hollywood ist weniger selten mehr – es sei denn, man will sparen, und dann geht es meistens schief. Denn Intimität bedeutet immer Großzügigkeit, schließlich teilt man Nähe und Gefühl, und es zählt jede Nuance.

Der britische Filmemacher Andrew Haigh bewies 2016 mit dem Ehedrama „45 Years“ seine Meisterschaft in einer Form, der Ingmar Bergman einmal seinen Stempel aufdrückte. Woher wusste der damals 42-Jährige so viel über das Altwerden, das stumme Verschmelzen, aber auch das Verleugnen, die Tabus? Doch Psychologie ist nur eine Hilfsdisziplin des Filmemachens, nicht mehr als ein Ausgangspunkt. Sein neuer Film „All Of Us Strangers“ ist weit mehr als ein psychologisches Kammerspiel. Je nachdem, wo dieser Film erwähnt wird, firmiert er als Drama, Romanze, Science Fiction oder Fantasy. Vielleicht ist es einfach einer der schönsten und traurigsten Filme über Liebe und Verlust.

Ein fast leerstehendes Hochhaus weckt jenseitige Gefühle, schon in den ersten Szenen, die wie viele weitere in der Dämmerung spielt. Andrew Scott verkörpert den einsam lebenden Fernsehdrehbuchautor Adam, der die Nacht zum Tage macht. Ein Musiksender spielt Frankie Goes to Hollywood, deren Ballade „The Power Of Love“ mit dem unheimlichen Versprechen des Sängers beginnt, Vampire von der Tür fern zu halten. Da ist der Besuch eines unbekannten Nachbarn an der eigenen Tür wohl mit Vorsicht zu genießen.

Adam lehnt das Angebot ab, die Nacht gemeinsam zu verbringen, wirkt dabei zugleich ängstlich und bedauernd. Stattdessen beginnt er zu schreiben und nimmt dann den Vorortzug zu seinem verlassenen Elternhaus. Diese starben bei einem Autounfall, als er zwölf war, und nun sieht er sie durch die Fenster. Sie essen mit ihm zu Abend, als sei sein seltener, aber willkommener Besuch eine Selbstverständlichkeit. Adam wird eine Gewohnheit daraus machen – bis sich, wie in märchenhaften Situationen häufig, ein Zeitfenster schließt.

Manche Visionen sind so universell, dass man sich wundert, warum das Kino, das doch auch ein ideales surreales Medium sein kann, nicht mehr davon verwirklicht. Menschen, die jung sterben, bleiben es in unserer Erinnerung, und so spielen Jamie Bell und Claire Foy ein Ehepaar in ihren Dreißigern, das einem Mittvierziger als Sohn begegnet. „Du siehst ganz anders aus, aber doch genau wie du“, wird sich seine Mutter wundern.

Wie in den 80er Jahren

Nur im 80er-Jahre-Kinderzimmer hat sich nichts verändert, inklusive der LP von Frankie Goes to Hollywood. Das Schauspiel in diesen zärtlichen Szenen der Annäherung ist faszinierend, Bell und Foy sind in jedem Augenblick überzeugend als Eltern der 80er Jahre. Als Adam seiner Mutter mitteilt, dass er schwul ist, fragt sie erst einmal ungläubig nach: „So wie in homosexuell? Oh, das tut mir aber leid.“ – „Nein, das braucht es nicht. Ich fühle mich gut damit.“

Bei einem anderen Besuch sieht man die Familie wie früher den Weihnachtsbaum dekorieren. Die Eltern legen „Always On My Mind“ auf und singen zärtlich, mit Blick auf den Sohn, den Text mit. Es ist eine wunderbare Szene über die 80er Jahre; die Bedeutung der Pet Shop Boys als schwule Pop-Ikonen bleibt für die Eltern als Repräsentanten des Mainstreams jener Zeit unsichtbar.

Wenn sich zwischen Adam und seinem Nachbarn im Haus (Paul Mescal) parallel zu seinen Reisen in die Vergangenheit eine Liebesgeschichte entspinnt, gewinnt der Blick auf die damalige Wahrnehmung von Homosexualität eine weitere Ebene. Die Angst, die von Adam schon in der ersten Szene ausgegangen ist, reflektiert die Ära von Aids. Sex, erklärt er seinem jüngeren Partner, sei für ihn von Beginn an mit Tod assoziiert gewesen.

Ohne Ausstattungstricks

Für die heterosexuelle Welt sind die 80er Jahre die ikonische Zeit des Teenagerfilms. Was Andrew Haigh hier mit den Mitteln des Kammerspiels, ohne Ausstattungstricks und an nur zwei Schauplätzen erreicht, ist ein bezwingender Gegenentwurf: Wie musste sich ein Zwölfjähriger fühlen, der in dieser von HIV geprägten Zeit seine Homosexualität entdeckt?

Es wird nicht viel darüber gesprochen in diesem wunderbaren Minimalismus, aber Gefühle bestimmen jede Szene. Wenn Filme von Verlustempfindungen erzählen, dann sind es meistens zugleich Liebesfilme.

Als Vorlage diente der Roman „Strangers“ von Tashi Yamada, wobei Haigh, selbst homosexuell, aus der Protagonistin einen Protagonisten machte. Die japanische Literatur bewegt sich oft etwas sicherer auf jenseitigem Terrain als die westliche, und das dortige Kino hat einen besonders selbstverständlichen Umgang mit den Schnittstellen von Leben und Tod entwickelt.

Haigh gelingt es, ein phantastisches Melodram ohne jede Äußerlichkeit zu gestalten, was eine absolute Seltenheit im Genre ist – noch dazu ohne äußeres Pathos. Es ist ein Gedicht von einem Film, jenseitig auf seine eigene Art: es sprengt jede Kategorie.

All of Us Strangers. GB 2023. Regie: Andrew Haigh. 106 Min.

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