«All of Us Strangers»: Das erste Meisterwerk des Kinojahres

8 Feb 2024
Was, wenn man mit den Verstorbenen über alles Ungesagte noch einmal reden könnte? Der queere Filmemacher Andrew Haigh tut es – in einer atemberaubenden Geisterstunde.

Tobias Kniebe

All of Us Strangers - Figure 1
Foto Tages-Anzeiger

Publiziert heute um 06:10 Uhr

Die kleinsten Entscheidungen haben kosmische Konsequenzen: Andrew Scott und Paul Mescal in «All of Us Strangers».

Foto: Searchlight Pictures

Ein winziges Kopfnicken, ein Freigeben der Tür, mehr bräuchte es nicht. Und Adam ist kurz davor. So kurz davor, seine gleichförmigen Tage zu durchbrechen, seinen attraktiven Nachbarn hereinzulassen, mit seiner Whiskeyflasche, eine Runde zu trinken und zu schauen, wohin das führt. Aber etwas hält ihn schicksalhaft davon ab.

Die kleinsten Entscheidungen haben kosmische Konsequenzen in Andrew Haighs Film «All of Us Strangers». Das wird der Endvierziger Adam (Andrew Scott) noch zu spüren bekommen. Er versucht, über seine Jugend zu schreiben, einen Fernsehfilm. Er kommt nicht voran, zäh und ziellos dehnen sich seine Tage in dem Hochhaus, das er durch seltsame Umstände fast allein bewohnt. Bis er bemerkt, dass es dort auch noch den 20 Jahre jüngeren Harry (Paul Mescal) gibt.

Vampire und warme Farben der Hoffnung

Beide lieben Männer, das wissen sie voneinander schon beim ersten Blickkontakt. Als Harry in jener Nacht vor Adams Tür steht, schimmert Lust in seinen Augen, und er redet amüsant und betrunken über dies und das. Darunter spürt Adam einen Wunsch nach Nähe, so dringend, dass er Angst bekommt. «Ich habe Vampire an meiner Tür», sagt Harry noch, bevor das leise Klicken der Wohnungstür ihn wieder nach draussen in die Nacht verbannt.

Dabei gibt es durchaus eine starke Attraktion, die sich in den nächsten Tagen Bahn bricht. Adam holt die verpasste Einladung nach, die beiden finden zusammen und merken schnell, dass sie ein Paar werden können. Parallel zu dieser Entwicklung, die der queere englische Filmemacher Andrew Haigh sehr erotisch und in den warmen Farben der Hoffnung zeichnet, passiert mit Adam etwas Seltsames.

Um sein autobiografisches Schreiben zu befeuern, hört er wieder seine Kindheitsmusik, von Frankie Goes To Hollywood bis zu den Fine Young Cannibals, und fährt zu dem Reihenhaus in die Schlafstadt im Süden Londons, wo er aufgewachsen ist. Dort begrüsst ihn ein Paar, jünger als er selbst, wie einen verlorenen Sohn. Und bald merkt man, dass die beiden, gespielt von Claire Foy und Jamie Bell, tatsächlich seine Eltern sind.

All of Us Strangers - Figure 2
Foto Tages-Anzeiger

Diese geisterhafte Idee stammt aus dem Roman «Strangers» von Taichi Yamada, aber Andrew Haigh hat sein eigenes Leben gewissermassen darübergelegt. Und bevor man wirklich fragt, wie das alles sein kann (die Eltern starben, als Adam zwölf war, bei einem Autounfall), ist man bereits total gefesselt von einer Situation, in der Adam jetzt zum Beispiel erklären muss, was aus ihm wurde – ein schwuler Mann.

So viel gäbe es noch zu sagen und zu verzeihen

Die Eltern, deren Weltbild mit ihrem Tod im Jahr 1987 quasi eingefroren ist, reagieren besorgt bis wenig überrascht. Aber ist die Welt für ihren Sohn heute besser oder nicht? Hätten sie, als er den Bullys in der Schule schon anheimgefallen war, stärker reagieren müssen? Und war nicht selbst die britische Musik der Achtziger – in einer Rückblende werden etwa die Pet Shop Boys mit dem Weihnachtshit «Always on My Mind» eingespielt – ein Fest der Queerness?

Diese Fragen schwirren durch die Erinnerungen und die Gespräche, von denen Adam zehrt wie von einem Elixier – so viel wurde ihm zu früh genommen, so viel gäbe es noch zu sagen, zu verstehen, zu verzeihen. Auf die Vollwaise wartete später nur Aids, eine neue Welle der Homophobie, eine schwere, einsame Zeit. Andrew Haighs Eltern sind zwar nicht früh gestorben, sie liessen sich nur scheiden – aber das eigene Gefühl einer verlorenen Jugend entfesselt er hier doch mit voller emotionaler Wucht. Und wer kein Herz aus Stein hat, wird gar nicht anders können, als an Ungesagtes und Verpasstes mit den eigenen Eltern zu denken.

Haigh drehte im eigenen Elternhaus

So wird «All of Us Strangers» eine grossartige Studie über verkapselte Gefühle und Traumata, über alte Wunden, die aufbrechen, und notwendige Gespräche und Umarmungen, die vielleicht heilen können. Der Regisseur Andrew Haigh hat sich bei dieser Geisterstunde nichts erspart – er drehte in seinem eigenen Elternhaus im Vorort Croydon, er lässt Adam einmal den viel zu kurzen Pyjama seiner Kindheit wieder anziehen – und er erzählt, dass selbst das Ekzem, das er als Kind hatte, für die Drehzeit zurückkehrte. Das spürt man in der Intensität des Films, selbst bevor man es weiss.

Hochkarätig besetzt: Jamie Bell zeigt, dass die schweigsamen Väter von damals mehr sahen, als man ihnen zutrauen wollte.

Foto: Searchlight Pictures

Die vier Performances sind allesamt atemberaubend. Andrew Scott spielt einen Mann, dessen innere Verhärtungen sich langsam lösen. Claire Foy als Mutter lässt mit minimalen Mitteln eine andere Zeit auferstehen, Jamie Bell zeigt, dass die schweigsamen Väter von damals mehr sahen, als man ihnen zutrauen wollte. Und Paul Mescal grundiert alles mit einer wundersamen, fast selbstlosen Liebesbedürftigkeit.

Ein schmalztriefendes, die Geschichte ins Positive umschreibendes Tränenfest ist der Film dennoch in keiner Weise. Er ist innerlich viel klüger und folgerichtiger gebaut, als man lange Zeit ahnen kann. Erst als Frankie Goes To Hollywood zur finalen Ballade ansetzen, von der «Power of Love» singen und den Vampiren, die es von den Türen der Menschen fernzuhalten gilt, begreift man das in seiner ganzen, unvergesslichen, Seelen zerschmetternden Wucht.

«All of Us Strangers» läuft im Kino.

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