Alisha Lehmann: Der grösste Star im Schweizer Fussball

8 Jun 2024

Die EM der Männer beginnt bald. Der wahre Star im Schweizer Fussball aber ist eine Frau

Alisha Lehmann wird unter den Augen von Millionen zum Fussball-Star. Sie wird bejubelt und beschimpft. Und feiert abseits des Platzes ihren grössten Sieg. Die Geschichte einer Befreiung

Alisha Lehmann - Figure 1
Foto NZZ am Sonntag

Bekannte Unbekannte: Alisha Lehmann

Neville Williams / Aston Villa FC

Sie wuchs auf umgeben von Wäldern, Wiesen und Feldern. Gleich hinter dem Haus plätscherte ein Bach, im Garten grasten Pferde, bellten Hunde, grunzten Hausschweine. Im Dorf gab es eine Hornussergesellschaft, einen Fleckviehzuchtverein, die Feldschützen.

Als sie im Sommer 2018 von zu Hause auszog, zog sie nicht ins Nachbardorf, wie ihre Freundinnen das machten, sie zog nach London – und wurde Profifussballerin.

Vom Frauenteam der Young Boys in die höchste englische Liga zu West Ham, so stand es in der Zeitung, ein Zweizeiler. Und nach der U-19-Europameisterschaft in der Schweiz schrieb das «Bieler Tagblatt», nun dürfte ihr Name dem einen oder anderen ein Begriff sein.

Heute ist Alisha Lehmann die bekannteste Schweizer Sportlerin. Und die berühmteste Fussballerin der Welt nach modernen Massstäben: 16,6 Millionen Follower auf Instagram, 10,9 Millionen auf Tiktok. Postet sie ein Foto, weil sie sich einen Sonnenbrand geholt hat oder neue Zöpfe geflochten, wird das von Online-Redaktionen von Bern bis Birmingham als «News» verkündet.

Jeder will ein Stück vom Lehmann-Kuchen: Serbelnde Medien wollen Klicks, Chefs von vorgestern brauchen einen Zugang zur digitalen Welt.

Dank Lehmann schafft es sogar die Werbung einer Versicherung, auf Tiktok viral zu gehen und die Jungen zu erreichen, worüber sich die verantwortliche Head Marketing & E-Commerce freut, weshalb sie gleich noch eine Pressemitteilung nachlegt und auf Linkedin die Performance feiert – jeder will ein Stück vom Lehmann-Kuchen: Serbelnde Medien wollen Klicks, Chefs von vorgestern brauchen einen Zugang zur digitalen Welt, in der die Likes regieren – da kommt eine Fussballerin, die gerne im Bikini posiert, wie gerufen, schliesslich hat die Schweiz keinen Adel und keine Glamour-Sternchen, um die bunten Seiten zu füllen; also muss der Sport herhalten.

0,26 Sekunden muss man sich gedulden, bevor man wählen kann aus fünf Millionen und dreissigtausend Suchergebnissen, die einem vorgaukeln, etwas über Alisha Lehmann zu erzählen. Man kann zusehen, morgens, mittags, abends, wie sie trainiert, wie sie feiert, auf dem Sofa liegt, im Stadion einläuft und wen sie küsst. Doch was sehen wir hier eigentlich? Und wer ist das?

Die Geschichte von Lehmann ist eine Geschichte der Boulevardmedien.

Ryan Pierse / Getty Images Europe

Wochen nach Lehmanns Wechsel von YB zu West Ham United spielte das A-Nationalteam der Frauen gegen Belgien, es ging um die WM-Qualifikation. Lehmann, damals neunzehn, traf zweimal und weckte WM-Träume. Vorbereitet hatte beide Tore Ramona Bachmann, vielleicht die brillanteste Spielerin, die die Schweiz je hatte, und Alisha Lehmanns langjähriges Vorbild.

Vier Tage danach fragte der «Blick»: «Schiesst uns dieses Traumpaar an die WM?», dazu Screenshots von Instagram: Ramona, die den Arm um Alisha legt, Ramona und Alisha eng umschlungen vor Backsteinwänden und beim Jubel im Nati-Dress. Im November spielten sie gegeneinander, Chelsea gegen West Ham, Bachmann gegen Lehmann. Die BBC widmete diesem Duell eine Folge einer mehrteiligen Serie, Medien aus der ganzen Welt griffen die Geschichte auf, und Alisha Lehmann, die junge Frau aus Tägertschi, Kanton Bern, 398 Einwohner, hatte plötzlich Follower aus Argentinien, Griechenland und Brasilien.

Damals begann eine Karriere, die es so noch nie gegeben hatte. Und mit der niemand gerechnet hatte.

Stille Schülerin

«Es ist, als wäre sie aus einem Ei geschlüpft, ganz neu geboren», sagt Bernhard Thomann, ihr ehemaliger Oberstufenlehrer. Ein einfaches Mädchen sei sie gewesen, «nett und geerdet. Und sie strahlte. Immer strahlte sie».

Drei Jahre lang besuchte Alisha Lehmann die YB-Schule, eine Sportschule in der Nähe des Trainingsgeländes der Berner Young Boys. Sie trainierte sechsmal pro Woche, zweimal am Morgen, viermal am Abend, 2011 bis 2014.

«Eine stille, unauffällige Schülerin war sie», sagt ihr damaliger Klassenlehrer Simon Mosimann. Wenn Lehmann zu jener Zeit einen Vortrag hielt oder etwas erzählen musste im Passé composé, dann sprach sie von ihren Tieren zu Hause.

«Ich dachte mir, das kann ja gar nicht wahr sein, das ist grossartig», sagt Bernhard Thomann, der Mathe unterrichtete. Einmal, als Lehmann sich nervte über die Zahlen und das Zeugs, da sagte er, wenn sie dann einen Profivertrag habe, könne sie ja jemanden anstellen, der die Finanzen mache für sie. «Wir lachten.»

An einem Freitagabend im April 2024 spielt die Frauen-Nationalmannschaft im Zürcher Letzigrund gegen die Türkei, 5490 Zuschauer, in der Südkurve hat jemand eine Schweizerfahne über die Sitze gespannt. Lehmann kommt zehn Minuten vor Schluss, bleibt blass, die Schweiz gewinnt 3:1.

«Für die Interviews in der Mixed-Zone kannst du die Wünsche nach dem Spiel unserem Medienverantwortlichen angeben, er versucht sie dann umzusetzen», hatte mir der Verband gemailt. Nachdem ich zwanzig Minuten durchs Stadion gelaufen bin, finde ich ihn, aber er «muss grad zum TV».

Schliesslich sagt mir der Reporter von «20 Minuten», Alisha sei schon weg. Also lasse ich ihr einen Brief zukommen.

Sehr geehrte Frau Lehmann,

viele Leute scheinen eine Meinung über Sie zu haben. Sie kommentieren Ihr Aussehen und alles, was Sie tun. Obwohl alle diese Leute keine Ahnung haben, wer Sie wirklich sind. Auch ich weiss wenig über Sie. Aber ich würde das gerne ändern.

Am Dienstag spielen sie in Baku gegen Aserbaidschan.

Alisha und Ramona

In der Weihnachtszeit 2018, Lehmann lebt seit einem halben Jahr in England, reist die «Schweizer Illustrierte» nach London. Sie hüllt Lehmann in einen Kenzo-Pulli und einen Kunstpelzmantel und fotografiert sie und Ramona Bachmann vor dem London Eye, fotografiert sie daheim im Bett, fotografiert sie am Piccadilly Circus.

Und der «Blick» bringt einen Artikel über den Artikel in der «Schweizer Illustrierten». Ramona Bachmann sagt darin: «Wir machen die Beziehung nicht nur für uns öffentlich, sondern auch für andere. Jeder soll so sein, wie er ist.»

«Nati-Stars Bachmann und Lehmann sprechen über Liebesglück» (Nau.ch).

Der «NZZ am Sonntag» sagte Lehmann: «Ich habe mir nie Gedanken gemacht, dass jemand etwas Schlechtes denken könnte. Ich dachte, solange ich glücklich bin, kann ich es preisgeben.» Und: «Ich würde nicht sagen, ich stehe jetzt für immer auf Frauen. Ich bin einfach in Ramona verliebt.»

Es sind bemerkenswert arglose Aussagen. Eine junge Frau sagt, was sie fühlt. Doch Lehmann war auf dem Weg nach oben, und die medialen Scheinwerfer waren jetzt angeknipst.

Als sie im Mai mit West Ham den Cup-Final spielte, filmte SRF sie für einen Dokumentarfilm, und als sie sich kurz danach im Training verletzte, titelte die «Schweizer Illustrierte»: «Alisha Lehmann: OP-Schock zum Liebesjubiläum. Jetzt braucht sie Freundin Ramona ganz besonders».

Rund 4000 Franken pro Monat verdiente Lehmann in ihrer ersten Saison als Profispielerin, der Bruchteil eines Fussballerlohns. Instagram war bis dahin nur ein Zeitvertreib. Der Sommer 2019 war der Moment, als sich das änderte. Und mit den Followern kamen die Beleidigungen.

«All das Make-up, nur um zu Hause 1:7 zu verlieren.»

«Wozu das Make-up bei einem Spiel?»

«Weniger Farbe, mehr Tore.»

Als bekanntwurde, dass sie mit Ramona Bachmann zusammen ist, kommentierte ein Anhänger: «Jetzt sehe ich dich mit anderen Augen.»

Lehmann will nicht mehr

Nach dem Sieg gegen die Türkinnen im vergangenen April spielen die Schweizerinnen vier Tage später gegen Aserbaidschan. Eine «Pflichtaufgabe», wie es im Sportjournalistenjargon heisst. In ihrem fünfzigsten Spiel für das Nationalteam tanzt Alisha Lehmann, als wär’s ein Tiktok-Video, und bereitet so das 1:0 vor. Sie sprintet, als wäre sie der Gepard, der als Tattoo ihren Unterarm ziert. Das 3:0 ist ebenfalls ihr Verdienst.

Lehmann ist zurück im Nationalteam – obwohl einst alles auf der Kippe zu stehen schien.

Ende Mai 2022 verschickte der Fussballverband ein Communiqué. «Nationalspielerin Alisha Lehmann verzichtet im Juni auf das EM-Vorbereitungs-Camp und entsprechend auch auf eine EM-Teilnahme im Juli in England.» Alisha Lehmann wurde mit folgenden Worten zitiert: «Es ist ein persönlicher Entscheid. Ich fühle mich mental nicht bereit für ein EM-Turnier.»

Shirin David über Alisha Lehmann.

Zu diesem Zeitpunkt war Lehmann ein Star. «Kontrollier das Game wie Alisha Lehmann beim Fussballspiel», rappte Shirin David, 6,5 Millionen Follower. Lehmann hatte innerhalb der englischen Liga zum Traditionsklub Aston Villa gewechselt, sie hatte sich von Ramona Bachmann getrennt und sich in den brasilianischen Nationalspieler Douglas Luiz verliebt und war gleich in ihrer ersten Saison für Villa von den Fans zur Spielerin des Jahres gewählt worden. All das begleitet vom Tosen des Boulevards, das über sie hinwegschwappte wie ein Fluss, der längst über die Ufer getreten war.

Und nun erfrechte sie sich, nicht an der Europameisterschaft teilzunehmen?

Da schlug der Boulevard wieder zu: Alisha «Superstar, Reizfigur» Lehmann («Blick»). War sie lesbisch? Ist sie bi? Jeder Wimpernschlag eine Story, einmal schreibt man sie hoch, dann runter, es spielt keine Rolle, solange sie klickt.

«Kehrt Alisha Lehmann dem Fussball den Rücken?», wollte ebendieser «Blick» wissen und gab in der Bildlegende zum Foto, das Lehmann von hinten zeigte, gleich die Antwort: Ja. Man bemühte eine Influencer-Expertin («Eine Social-Media-Pause würde ihr momentan guttun»), liess Kritiker zu Wort kommen, dazu ein Video in Endlosschleife, in dem Douglas Luiz Lehmann küsst. Die Facebook-Kommentare unter einem Post der «Schweizer Illustrierten» gingen so weit, dass sich Lehmanns Mutter einschaltete und ihre Tochter verteidigte, worüber wiederum die «Sonntagszeitung» einen Beitrag verfasste.

«Sie hat bewiesen, dass man als Frau alles sein kann, was man sein will.»

Die Geschichte von Lehmann ist eine Geschichte der Boulevardmedien, die in Zeiten von Social Media an Relevanz verloren und orientierungslos um sich blickten. Lehmann, eine Fussballerin, die auch ein Pop-Star ist, Glamour verströmt und sich nicht scheut, Intimes zu teilen, wurde zur Attraktion in einem Rad, das weiterdrehte, auch wenn sie nicht mehr laufen mochte. Als wäre erwachsen werden an sich nicht anstrengend genug.

Davon abgesehen entblösste die Episode eine seltsame Anspruchshaltung: Eine Fussballerin hat zu spielen. Lehmann hat zur Verfügung zu stehen.

Eines der rar gewordenen grossen Interviews gab Alisha Lehmann im März 2023 dem TV-Giganten «Sky». Darin äusserte sie sich zur EM-Absage: «Natürlich waren es keine mentalen Probleme. Ich weiss nicht, wer das so formuliert hat. Manchmal passieren Dinge im Leben, die nicht jeder wissen muss. Ich zeige schon genug auf Instagram.»

Eine 23-jährige Sportlerin braucht eine Pause. Der Verband kommuniziert mentale Probleme, obwohl es offenbar keine waren. Die Zeitungen schreiben schon einmal den Nachruf. Und im Magazin des Aargauer Fussballverbands steht, dass Alisha Lehmann kein gutes Vorbild sei, weil sie Make-up trägt. Jeder macht aus ihr, was er will.

Birmingham an einem Samstagmorgen Ende April. In Moseley, einem Quartier im Süden der Stadt, reihen sich Backsteinhäuser an Pubs und Pubs an Teppichgeschäfte.

«Alisha Lehmann?» Sarah Breslin nippt an ihrem Schwarztee. «Oh, sie ist grossartig.»

Breslin, 43, ist Gründerin der Villa Bellas, eines Fanklubs für Frauen. Spreche man über Aston Villa, spreche man über Alisha Lehmann, sagt Breslin. «Sie hat bewiesen, dass man als Frau alles sein kann, was man sein will.»

Alisha Lehmann? «Oh, sie ist grossartig». sagt Sarah Breslin, Gründerin des Fan-Clubs der Frauenmannschaft von Aston Villa.

Ed Sykes / X03816

Doch die Schweiz tut sich schwer mit ihrem grössten Star, denn anders als Roger Federer, die wandelnde Werbetafel, entzieht sie sich dem Spiel mit den Medien und der Öffentlichkeit und macht neuerdings, was sie will.

Einmal ist sie eine Feministin, die dem Magazin «Forbes» erzählt, dass sie ihre Periode hatte, damals, als sie sich verletzte, und damit auf eine Problematik aufmerksam macht, die im Frauensport unter den Teppich gekehrt wird.

Dann wieder ist Lehmann eine Frau, die eine G-Klasse von Mercedes fährt und nach Miami fliegt oder nach Mykonos zu einem Promi-Koch, der Steaks mit Gold verziert.

Sie setzte sich ein für die Akzeptanz von Homosexuellen, als sie ihre Beziehung mit Bachmann öffentlich machte, und verkörpert heute mit ihrem Partner Douglas Luiz, einem Fussballprofi, genau jenes Klischee, das man doch überwinden wollte.

Die Frage, ob sie Fussballerin sei oder Influencerin, wird ihr oft an den Kopf geworfen, und Lehmann antwortet: «Warum muss ich mich entscheiden?»

Am Samstagabend spielen die Männer von Aston Villa gegen Chelsea. Das Stadion bietet Platz für 42640 Zuschauer. Als die Spieler mit dem Mannschaftsbus einfahren, warten dort Tausende von Fans. Sie zünden Rauchbomben, singen und strecken Schals in die Luft.

Am nächsten Tag bei den Frauen ist das Stadion praktisch leer. Kämen allerdings sämtliche Follower von Lehmann zum Spiel, könnte man den Villa Park etwa 640 Mal füllen.

Seit einem Monat beschäftige ich mich nun mit Lehmann. Ich habe mich vorwärts und rückwärts durch ihr Instagram-Profil gescrollt. Ich weiss alles über sie. Und doch nichts.

Ich hatte Lehmanns Mutter gemailt, die mich an Lehmanns Management verwiesen hatte, das nicht geantwortet hat. Ich habe Amira Arfaoui geschrieben, einer Nati-Kollegin, die sie seit Jahren kennt. Ich habe Aston Villa gefragt, ob ich mir ein Training anschauen könne, was nicht erlaubt ist. Aber ein Interview nach dem morgigen Spiel sollte drinliegen, meine ich.

Ich notiere mir Fragen. Ob es sie nerve, wenn sie nicht von Anfang an spiele? Ob es anstrengend sei, so kontrovers diskutiert zu werden? Alles wirkt hohl. Wie fühlen Sie sich?

Einen Monat lang habe ich versucht, mit Alisha Lehmann zu sprechen, und nun weiss ich nicht was fragen?

Sonntagnachmittag im Villa Park: Lehmann sitzt auf der Bank. In der ersten Halbzeit passiert nichts. 0:0, auf der Pressetribüne riecht es nach Bratfett.

In der 67. Minute zieht Lehmann ihre Haargummis fest, dehnt die rechte Wade, die linke, Jubel bei ihrer Einwechslung. Drei Minuten später: halbhohe Flanke von links, Lehmann macht einen Lauf, den sie tausendmal geübt hat, damals im Stürmertraining bei Stéphane Chapuisat schon. Sprint auf den ersten Pfosten, in der Luft lenkt sie den Ball in die weitere Ecke. Erste Ballberührung, erstes Tor der Saison.

Meinen Platz verlasse ich vier Minuten vor Schluss, damit ich ja rechtzeitig zur Mixed-Zone komme, und verpasse den Ausgleich von West Ham in der Nachspielzeit. Ich stehe in den Katakomben vor einer Sponsorentafel, als ein belgischer Journalist durch die Tür kommt. Er erzählt, wie er vor sechs Jahren Alisha interviewt hat, zwei Minuten dauerte das Gespräch, 27000 Views habe ihm das beschert.

«Ich habe Angst, etwas Falsches zu sagen», sagt Mutter Lehmann über ihre Tochter.

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Aber heute, sagt der Belgier, sei es sehr schwierig geworden, an Fussballer heranzukommen. Und als ich wenig später den Medienchef von Aston Villa durch die Tür kommen sehe, sehe ich seinem Gesicht an, dass es nicht klappen wird.

Gigantischer Irrsinn

Zurück in der Schweiz, stehe ich an einem sonnigen Freitagnachmittag vor einem Gatter. «Hier wache ich. Betreten auf eigene Gefahr» – und es dauert nur Sekunden, bis ungefähr zehn Hunde angerannt kommen und bellen und kläffen, klein, gross, alle wild durcheinander. Sie beruhigen sich erst, als eine junge Frau erscheint. Sie sagt, sie hüte nur die Hunde, Alishas Mutter sei gerade in England.

Am Montag danach kaufe ich Spitzbuben bei der Bäckerei im Nachbardorf, fahre dann über Land, blühenden Wiesen entlang. Kurz vor Tägertschi, einem Dorf zwischen Bern und Thun, in dem man seine Ruhe hat und einen gemähten Rasen, sehe ich, wie eine blonde Frau auf einem kleinen Gefährt einen Feldweg hochrumpelt.

Sie wisse, wer ich sei, ruft Lehmanns Mutter mir entgegen, ich sei ja schon letzte Woche bei ihr gewesen. Ihr Gefährt ist eine Art Kutsche mit zwei Rädern, das sie von einem Pony ziehen lässt, nebenher traben zwei schneeweisse Wolfshunde. Sie sagt, diese Ponys brauchten Bewegung, sonst würden sie fett.

Sie hat blonde Haare wie ihre Tochter und ein breites Lächeln. Und sie erzählt drauflos, von Birmingham, von Alisha und ihrem Freund Douglas Luiz, der eben Geburtstag hatte. Und sie freut sich sehr über das Gebäck, das ich mitgebracht habe. Eine nette Frau mit einer talentierten Tochter, die hart für ihren Erfolg gearbeitet hat. Und jetzt können sie nicht einmal mehr zusammen in die Migros, ohne eine halbe Stunde Selfies zu knipsen.

Was für ein gigantischer Irrsinn.

Und dann stehen wir da, die Mutter der berühmtesten Fussballerin der Welt und ich, über uns kreisen Milane. Sie zupft Zecken aus dem weissen Fell ihrer Wolfshündin. Leute fahren vorbei, beäugen uns, und Lehmanns Mutter sagt, diese würden bestimmt denken, wir hätten einen Unfall gehabt.

Schliesslich frage ich, ob wir uns unterhalten könnten. Und sie sagt, sie habe Angst, etwas Falsches zu sagen.

Es dauert eine Weile, bis der Satz mich trifft. Wie kann eine Mutter etwas Falsches über ihre Tochter sagen?

Natürlich verstehe ich ihre Angst. Weil jedes Wort eine Lawine lostreten kann. Weil es die Sponsoren verärgert oder den Klub oder den Verband. Weil es Journalisten lockt, die nach Schlagzeilen lechzen. Journalisten, wie ich einer bin. Also schweigt sie. Wie ihre Tochter.

Und es fühlt sich richtig an.

Vielleicht ist das Alisha Lehmanns grösster Sieg. Dass sie sich den Kategorien verweigerte, die man für sie vorgesehen hatte. Während Männer im Profifussball dem Ball nachrennen, musste sie sich freispielen.

Zwei Wochen später postet Lehmann Bilder. Sie ist gerade in Brasilien und jongliert im knappen Bikini am Pool. Und der globale Boulevard macht «copy + paste».

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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