Alexej Nawalny (47) soll nach einem Gefängnisspaziergang zusammengebrochen und gestorben sein, meldet die russische Strafvollzugsbehörde Fsin. Aus dem Ausland kommen Mordvorwürfe gegen den Kreml.
Moskau. Alexej Nawalny ist — vermutlich — tot. Der russische Oppositionspolitiker sei in seiner Strafkolonie in der Arktisregion des nördlichen Uralgebirges verstorben. Das meldete am Freitag die russische Justizvollzugsbehörde Fsin.
„In der Strafkolonie Nummer 3 fühlte sich der Verurteilte Nawalny A. A. (Alexej Anatoljewitsch, Anm.) nach dem Spaziergang schlecht und verlor praktisch sofort das Bewusstsein“, heißt es in einer lapidaren Meldung der Behörde. Die alarmierten Ärzte hätten es nicht geschafft, den Häftling wiederzubeleben. Nawalnys Pressesprecherin sagte indes, dass sie den Tod vorerst nicht bestätigen könne. Der Anwalt des Oppositionsführers sei allerdings auf dem Weg zum Gefängnis bei der Ortschaft Charp, etwa 1900 Kilometer nordöstlich von Moskau.
Der 47-Jährige aus dem Raum Moskau war erst Ende des Vorjahrs von einem Gefängnis im Großraum von Moskau in diese extrem abgelegene Strafkolonie überstellt worden. Er klagte mehrfach über die unmenschliche Behandlung im Gefängnis. Auch medizinische Behandlung wurde ihm verweigert. Nawalny musste die meiste Zeit in Einzelhaft verbringen.
Aus dem Kreml hieß es, man habe „keine Information über die Todesursache“. Es würden aber alle erforderlichen Untersuchungen durchgeführt. Kreml-Chef Wladimir Putin sei vom Tode seines Widersachers in Kenntnis gesetzt worden. Erst diese Woche hatte es Berichte gegeben, dass Nawalny bereits zum 27. Mal für eine Dauer von 15 Tage in Einzelhaft gebracht worden sei.
Im August 2020 wurde Nawalny während einer Wahlkampfreise durch Russland mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet; hinter der Attacke wird der russische Geheimdienst vermutet. Nach einer medizinischen Behandlung in Deutschland kehrte er trotz aller Risken nach Russland zurück und wurde dort sogleich festgenommen. In mehreren Prozessen wurde er zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
Erst im vergangenen Dezember war der als politischer Gefangener eingestufte Politiker über mehrere Wochen verschwunden. Im Nachhinein erwies sich, dass die Justiz ihn aus dem europäischen Teil Russlands in besagtes Straflager verlegt hatte. Nawalny vermutete, dass er dort vor der Präsidentenwahl im März möglichst isoliert werden solle.
Charp im nördlichen Ural (Archivbild von 2008). In dem Nest mit nur wenigen Tausend Einwohnern im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen gibt es neben der Strafkolonie „Polarwolf“ ein Bergwerk für Chromgestein und ein Zementwerk. Eine Straßen- und Zugverbindung besteht in eine rund 40 km entfernte Kleinstadt, dort ist auch ein Flughafen. ValeryZatolochny/CC BY 3.0
Schallenberg: „Russland ist unfrei“Eine der ersten Reaktionen kam aus Österreich. Außenminister Alexander Schallenberg schrieb in einer Medienbotschaft: „Russland verliert mit Alexei Nawalny eine furchtlose und mutige Stimme im Kampf gegen die Korruption und einen Verfechter eines offeneren und demokratischeren Russlands. Sein Tod so kurz vor den Wahlen (die Präsidentenwahl im März, Anm.) erinnert uns einmal mehr daran, wie unfrei und undemokratisch Russland unter der Führung Putins ist. Ich fordere eine vollumfängliche, unabhängige Untersuchung der Umstände seines Todes.“
In Berlin nannte Bundeskanzler Olaf Scholz den Tod Nawalnys „bedrückend“. Dass er einst zurück nach Russland gegangen sei, sei sehr mutig gewesen. Nun habe er diesen Mut „mit dem Leben bezahlt“. Man wisse jetzt genau, was in Moskau für ein Regime regiere. Russland sei „längst keine Demokratie mehr“. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij, der gerade zu Gast bei Scholz in Berlin war, sagte, dass es offensichtlich sei, wer Nawalny getötet habe: nämlich Russlands Präsident Wladimir Putin. Diesem sei gleichgültig, wenn jemand sterbe. es gehe ihm nur um den Machterhalt.
„Er wurde vom Kreml brutal ermodet“„Alexej Nawalny hat für die Werte der Freiheit und der Demokratie gekämpft“, schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel auf X. „Die EU macht das russische Regime allein für diesen tragischen Tod verantwortlich.“ Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte eine Aufklärung der Todesumstände. Der britische Premierminister, Rishi Sunak, rühmte Nawalnys „lebenslangen Mut“.
Der französische Außenminister, Stéphane Sejourne, attackierte Putin, indem er erklärte, dass Nawalnys Tod von der „ Realität des Regimes von Wladimir Putin“ künde“. Noch direkter drückte es der Präsident Lettlands, Edgars Rinkevics, aus: „Was auch immer Sie über Alexej Nawalny als Politiker denken, er wurde einfach vom Kreml brutal ermordet. Das ist eine Tatsache und etwas, das man über die wahre Natur des gegenwärtigen russischen Regimes wissen sollte.“
Der polnische Außenminister, Radoslaw Sikorski, würdigte den Verstorbenen als „Held und Symbol für alle russischen Demokraten“. Für seinen Tod sei Putin verantwortlich. In Russland wiederum sagte der demokratische Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin, Nawalny sei „einer der talentiertesten und mutigsten Menschen Russlands“. Er hoffe, dass sich die Informationen über seinen Tod doch noch als unwahr erweisen würden.
Nadeschdin kritisiert offen den Krieg Russlands gegen die Ukraine und wollte bei der Präsidentenwahl im März antreten. Dies verwehrte ihm kürzlich die Wahlkommission wegen angeblich gefälschter Unterstützungserklärungen.
„Westliche Vorwürfe selbstentlarvend“Das russische Außenministerium hat die Anschuldigungen zum Tod Nawalnys unterdessen als „selbstentlarvend“ kritisiert. Obwohl die gerichtsmedizinischen Ergebnisse noch nicht vorlägen, habe der Westen bereits seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen, schrieb die kantige Außenamtssprecherin Maria Sacharowa auf X. Was sie genau meinte, erklärte sie zunächst nicht, es dürfte sich um die indirekten Mordvorwürfe auch an Putin handeln. (red./ag.)
Alexei Anatoljewitsch Nawalny wurde am 4. Juni Juni 1976 in Butyn im Raum Moskau geboren, sein Vater war in der Ukraine aufgewachsen. Nawalny studierte Jus und Finanzwissenschaften und war ab 1998 als Anwalt unter anderem für Unternehmen tätig. 2010 verbrachte er einige Monate bei Lehrgängen in den USA.
In den 2000er-Jahren war er zeitweise in der neuen demokratischen Partei Jabloko tätig und engagierte sich immer mehr im Bereich Korruptionsaufklärung. Dabei deckte er eine Reihe von Korruptionsfällen in Wirtschaft und Verwaltung auf, machte sich folglich mit den Mächtigen unbeliebt und stand bald selbst als Angeklagter wegen mutmaßlicher Korruption da. 2013 verlor es deshalb seine Anwaltszulassung.
Letztlich wechselte Nawalny ganz in die Politik, war an der Gründung von Parteien beteiligt und nahm dabei die Rolle des Korruptionsjägers ein. Bei der Moskauer Bürgermeisterwahl 2013 errang er abgeschlagen Platz zwei. 2016 zeigte er Präsident Wladimir Putin wegen Korruption an; es ging um finanzielle Malversationen seines Schwiegersohns mit einer Staatfirma, doch nahm das Gericht die Klage nicht an. Umgekehrt wurde er nun selbst wegen Korruption und Betruges angeklagt und auch mehrfach verurteilt.
Die Kandidatur Nawalnys zur Präsidentenwahl 2018, die er 2016 ankündigte, geriet zu einer wahren Schlacht mit den Behörden, der Polizei und Justiz, er wurde mehrfach festgenommen und es gab Anschläge mit Farbbeuteln auf ihn. Im Dezember 2017 schloss ihn die Wahlbehörde von der Kandidatur aus, seine politische Tätigkeit sowie die seiner Bewegung bzw. Stiftung wurde nach Kräften erschwert.
Nach einem Anschlag mit dem „Supergift“ Nowitschok auf ihn im August 2020 (die Symptome begannen während eines Fluges von Tomsk (Sibirien) kam er zur Behandlung nach Berlin, gesundete und reiste trotz aller Warnungen im Jänner 2021 zurück nach Moskau, wo er sogleich verhaftet wurde. In einer Serie von wohl politisch motivierten Verfahren wurde wegen mehreren Anschuldigungen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und entkam der „Mühle“ nicht mehr. Er kam nacheinander in zwei Straflager im Großraum Moskau, wo er von Misshandlungen, Schikanen und Schlafentzug sprach und umgekehrt zeitweise im Hungerstreik war. Seine Gesundheit verschlechterte sich. Im Dezember 2023 verschwand er aus dem Gefängnis von Melechowo und tauchte Tage später im berüchtigten Straflager Charp im nördlichen Ural auf. Dort soll er nun gestorben sein.
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