Vorstoß nach Aleppo: Kämpfe in Syrien neu aufgeflammt

2 Tage vor

Vorstoß nach Aleppo

In Syrien ist es erstmals seit 2020 wieder zu heftigen Kämpfen zwischen Gruppierungen islamistischer Rebellen und Regierungstruppen gekommen. Rebellen hatten am Mittwoch überraschend eine Großoffensive im Nordwesten gestartet. Am Freitag hätten sie bereits die von der Armee kontrollierte Millionenstadt Aleppo erreicht, so Menschenrechtsaktivisten. Die Regierung spricht jedoch von einer Abwehr der Offensive auf Aleppo. Die Eskalation sei Beobachtern zufolge auch ein Teil der zunehmend unbeständigen Lage in der Nahost-Region.

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Online seit heute, 18.33 Uhr

Es sind die schwersten Gefechte seit Jahren im noch immer andauernden Bürgerkrieg zwischen islamistischen Rebellen und Regierungstruppen im Nordwesten des Landes. Die Gefechte hatten am Mittwoch begonnen, nachdem eine Allianz von Dschihadisten nach eigenen Angaben eine Offensive mit dem Titel „Abschreckung der Aggressionen“ gestartet hatte.

Am Freitag erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Kämpfer der Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) befänden sich in Vierteln im Südwesten und Westen der Stadt. Sie würden mit verbündeten Gruppen „fünf Stadtteile von Aleppo“ kontrollieren. Sie seien „ohne nennenswerten Widerstand“ der syrischen Armee vorgerückt.

Im Stadtviertel Chan al-Assal in Aleppo lassen sich die heftigen Kämpfe in unmittelbarer Nähe erahnen

Zwei Bewohner berichteten der Nachrichtenagentur AFP von Kämpfern auf der Straße und Panik. Laut einem AFP-Journalisten rückten die Dschihadisten zudem mit Panzern vor. Ein von CNN geolokalisiertes Video soll außerdem einen islamistischen Rebellenkämpfer zeigen, wie er durch die verlassenen Straßen im Westen der Stadt fährt. Alle Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Regierung: Wehren Offensive ab

Die syrische Regierung erklärte ihrerseits hingegen, sie wehre die „Großoffensive bewaffneter Terrorgruppen“ auf Aleppo weiter ab, und ihr sei die Rückeroberung „bestimmter Stellungen“ gelungen. Auch Verstärkungen wurden laut einem Sicherheitsbeamten der syrischen Armee nach Aleppo geschickt. Laut Beobachtungsstelle hätten die syrischen und die mit ihr verbündeten russischen Luftstreitkräfte „23 Luftangriffe“ auf die als Dschihadistenhochburg geltende Region Idlib geflogen.

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte hat ihren Sitz in Großbritannien. Sie bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite jedoch kaum zu überprüfen. Seit Beginn der Offensive am Mittwoch seien laut der Beobachtungsstelle bereits mindestens 250 Menschen getötet worden. Ein Großteil von ihnen Kämpfer auf beiden Seiten, aber auch Zivilistinnen und Zivilisten. Die UNO meldete rund 14.000 Vertriebene seit Mittwoch.

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Kontrolle wichtiger Versorgungswege

Zuvor hatte es von der Beobachtungsstelle bereits geheißen, die Dschihadisten hätten Dutzende Städte und Dörfer im von der Regierung kontrollierten Norden und Nordwesten Syriens erobert. „Mehr als 50 Dörfer und Städte in den Regionen Aleppo und Idlib stehen nun unter der Kontrolle der HTS und verbündeter Fraktionen“, teilte die Beobachtungsstelle am Freitag mit. Bei den Kämpfen geht es vor allem auch um die Kontrolle wichtiger Versorgungswege.

Auch eine wichtige Nachschublinie – die Autobahn zwischen Aleppo und der 300 Kilometer südlich gelegenen Hauptstadt Damaskus – soll von den Aufständischen bereits abgeschnitten worden sein. Es wird befürchtet, dass die Blockade von Straßen die Treibstoffpreise in die Höhe treiben könnte. Zudem besteht Furcht, dass keine Waren mehr nach Aleppo gelangen könnten. Auch diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Gespaltenes Land Syrien

Im syrischen Bürgerkrieg, der nach der gewaltsamen Niederschlagung friedlicher Demokratieproteste durch die Regierung im Jahr 2011 ausgebrochen war, wurden bisher mehr als eine halbe Million Menschen getötet. Der Krieg hat das Land zudem völlig gespalten.

Machthaber und Langzeitdiktator Baschar al-Assad geriet zeitweise zwar schwer unter Druck, kontrolliert mit Hilfe seiner Verbündeten Russland und Iran inzwischen aber wieder zwei Drittel des Landes. Der Nordwesten ist teilweise unter Kontrolle von oppositionellen, islamistischen Rebellengruppierungen. Eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht.

Kämpfer der Rebellen auf dem Weg in die von der Regierung kontrollierten Aleppo-Region Aleppo und Idlib

Die zurückeroberten Städte und Dörfer der islamistischen Rebellengruppierungen, allen voran der HTS, liegen in den Regionen Aleppo und Idlib. Die gleichnamige Millionenstadt Aleppo war von 2012 bis 2016 heftig umkämpft, wird aber seit Ende 2016 von syrischen Regierungstruppen kontrolliert. Russland hatte 2015 in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen und damit das Blatt zugunsten von Assad gewendet.

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Idlib hingegen ist die letzte verbliebene Hochburg der Opposition und beherbergt laut BBC mehr als vier Millionen Menschen. Viele von ihnen wurden während des Konflikts vertrieben und leben unter katastrophalen Bedingungen. Die Enklave wird größtenteils von der HTS kontrolliert – doch auch durch von der Türkei unterstützte Dschihadisten, die unter dem Banner der Syrischen Nationalen Armee (SNA) operieren. Auch türkische Streitkräfte sind dort stationiert.

2020 vermittelten die Türkei aufseiten oppositioneller Gruppierungen und Russland aufseiten der Assad-Truppen einen Waffenstillstand, um einen Vorstoß der Regierung zur Rückeroberung Idlibs zu stoppen. Das führte zu einer längeren Pause in der Gewalt. Vereinzelt kam es jedoch weiterhin zu Zusammenstößen, Luftangriffen und Beschüssen.

Russland, Iran und Hisbollah abgelenkt

Doch bereits im vergangenen Monat warnte der UNO-Sonderbeauftragte für Syrien, Geir Pedersen, davor, dass die zunehmend unbeständige Lage in der Nahost-Region – gemeint seien damit vor allem die Kriege im Gazastreifen und im Libanon – den einigermaßen ruhenden Konflikt im Nordwesten Syriens auf gefährliche Weise wieder aufflammen lassen könnten.

„Regimefreundliche Milizen haben ihre Angriffe in der Region verstärkt und versuchen, die islamistischen Rebellengruppierungen abzuschrecken, weil Israel die Verbündeten des syrischen Regimes wie die Hisbollah und den Iran geschwächt hat“, zitierte die „New York Times“ („NYT“) die Nahost-Expertin Natasha Hall. Zudem würden sich die russischen Streitkräfte auf den Krieg in der Ukraine konzentrieren.

In der Dschihadistenhochburg Idlib soll es syrische und russische Luftangriffe gegeben haben Experte: Syrisches Regime verwundbar

Der bisherige Erfolg zeige auch die Verwundbarkeit der syrischen Regierung und die wachsende Stärke der verschiedenen Oppositionsfraktionen. „Vor Jahren wäre eine Offensive dieses Ausmaßes vom Regime zurückgeschlagen worden“, sagte Charles Lister, Direktor eines Nahost-Thinktanks, gegenüber der „NYT“.

Ihm zufolge hätten Oppositionskräfte wie die HTS, die aus der Al-Kaida-Tochter Dschabhat al-Nusra hervorgegangen ist, stark in Ressourcen und Ausbildung für Nachtoperationen investiert. „Das gleicht das Spielfeld im Grunde aus“, so Lister.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow verurteilte die Offensive der Dschihadisten am Freitag in Moskau als „Angriff auf die Souveränität Syriens“ und bot der Regierung Unterstützung an. Auch der iranische Außenminister Abbas Araktschi betonte „die anhaltende Unterstützung“ seines Landes für die syrische Regierung.

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