Erwachsenen-ADHS ist auch eine Superkraft im Familienalltag
Der Familienalltag erfordert Struktur und Organisation. Elternteile mit ADHS stoßen deswegen oft an ihre Belastungsgrenzen. Was hilft? Auch die guten Seiten zu sehen!
Ablenkbar, launisch, hibbelig, chaotisch. Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) haben nicht gerade den besten Ruf. Zu Unrecht! Im Gespräch mit SI Family erklärt Anja Wittwer, Ergotherapeutin mit Behandlungsschwerpunkt ADHS in der Praxis „Im Lot“ in Thun BE, dass in Erwachsenen mit ADHS oft unerkannte, echte Superkräfte stecken. Und die sind vor allem im Familienalltag Gold wert.
Anja Wittwer, täuscht der Eindruck oder erhalten aktuell besonders viele Erwachsene die Diagnose ADHS?
Anja Wittwer: Dieser Eindruck kann tatsächlich entstehen. Ich denke jedoch nicht, dass es heutzutage mehr Menschen mit ADHS gibt.
Welche Gründe für die Zunahme der Diagnose gibt es dann?
Wittwer: Bücher, Podcasts und soziale Medien haben die Thematik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Man weiß jetzt, dass es das überhaupt gibt und was die Symptome sind. Und man kommt vielleicht durch dieses Wissen auf die Idee, dass die eigenen Herausforderungen im Leben einen Namen haben könnten.
Was ist der zweite Grund?
Wittwer: In der heutigen Welt fällt eine entsprechende Neurodivergenz viel mehr auf als früher. Heutzutage muss man Beruf, Familie, sich selbst, den Haushalt, verschiedene Kommunikationskanäle und ganz viele weitere Einflüsse gleichzeitig managen. Dies verlangt nach permanenter Reizverarbeitung und großer Aufmerksamkeitsleistung. Beides verlangt Menschen mit ADHS besonders viel ab. Heutzutage ist aus meiner Sicht nicht die allgemeine Anzahl der ADHS-Fälle steigend, sondern der damit verbundene erhöhte Leidensdruck in der Gesellschaft. Dieser führt zu mehr Abklärungen - aber erfreulicherweise auch dazu, dass Leute sich früher Unterstützung suchen.
Ganz besonders bei Eltern.
Wittwer: Ja, oft zeigen sich im Familienkontext die Symptome stärker, weil die Anzahl der eigenen Rollen zunimmt. Elternteile mit ADHS müssen nicht nur ihr eigenes Leben unter erhöhter Anstrengung strukturieren, sondern auch noch das ihrer Kinder – welche ja selbst auch von ADHS betroffen sein können.
Als Ergotherapeutin begleiten Sie betroffene Eltern. Wer kommt eher zu Ihnen, Mamas oder Papas?
Wittwer: Zu mir kommen relativ viele Elternteile, die sich wegen der Mehrfachbelastung durch Job, Kinder, Haushalt, Familie und Planung überfordert fühlen. In meiner Praxis sind es mehrheitlich die Mütter.
Liegt das daran, dass Mütter immer noch den Hauptteil des Mental Load, also der ganzen in einer Familie anfallenden Planungs- und Denkarbeit übernehmen?
Wittwer: Das kann ein Faktor sein. Aber noch etwas Anderes, sehr Spannendes habe ich kürzlich im Buch „Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S“ gelesen. Aktuell wird dazu geforscht, wie hormonelle Veränderungen – wie Frauen sie sowohl während einer Schwangerschaft aber auch während der Menopause erleben – die Ausprägung der ADHS-Symptomatik verändern. Und zwar in beide Richtungen! Jede Veränderung bedeutet wieder Anpassungsleistungen der betroffenen Person.
Welche konkreten Tipps und Tricks können Eltern mit ADHS den Familienalltag erleichtern?
Wittwer: Es gibt extrem viele Hilfsmittel und welche passen, ist individuell. Was ich grundsätzlich allen Menschen mit ADHS empfehlen kann: die Organisations-Tools zu minimieren. Ein gutes Tool reicht. Man weiß, dass bei Erwachsenen mit ADHS der Wunsch nach mehr Struktur im Alltag dazu führen kann, dass sie mehrere To-Do-Listen und Agenden gleichzeitig führen, oder zu führen beabsichtigen. Doch ich empfehle Eltern, sich für ein System zu entscheiden und dieses gemeinsam mit der ganzen Familie zu bewirtschaften. Visuell ansprechend gestaltete Kalender helfen, den Überblick zu bewahren, indem zum Beispiel verschiedene Farben verschiedenen Alltagsbereichen zugeordnet werden. Berufliche Termine sind rot, Schul-Termine sind gelb, Haushalt orange, und so weiter.
Man soll in der Agenda festhalten, wann man den Haushalt erledigt?
Wittwer: Ja! Wenn man jedem Alltagsbereich ein konkretes Zeitfenster zuweist, minimiert das die Gedankenbelastung, also den Mental Load. Und es hilft, sich weniger zu verzetteln. Wer sich jede zweite Woche ein wenig Zeit zum Erledigen der Post reserviert, läuft weniger Gefahr, aus reinem Impuls auf dem Weg zur Waschküche eine ins Blickfeld gelangte Rechnung zu öffnen, um diese dann irgendwo liegen zu lassen. Diese Ablenkbarkeit ist auch beim Aufräumen ein großes Thema. Menschen mit ADHS können an der einfachen Aufgabe, einen Tisch abzuräumen scheitern, wenn sie von jedem Gegenstand, den sie in die Hand nehmen, dazu verleitet werden, spontan etwas Neuem nachzugehen.
Was hilft hier?
Wittwer: Ich kenne einen Trick, der ist bei meinen Klientinnen und Klienten der absolute Renner. Wir nennen ihn „die Aufräum-Box“. Beispiel Bürotisch: Wenn ich ihn aufräumen möchte, dann kommen alle Gegenstände, die nicht auf den Bürotisch gehören, vorerst in diese Box. Damit kommt es zu deutlich weniger Ablenkungen und das eigentliche Ziel, einen aufgeräumten Tisch zu haben, ist schneller erreicht. Dieses Erfolgserlebnis sorgt für Motivation, und hilft dabei, mit der Box loszuziehen und jeden darin enthaltenen Gegenstand an seinen festgelegten Platz zu stellen.
Viele Menschen scheitern zwischendurch an solchen Dingen. Wann macht eine ADHS-Abklärung Sinn?
Wittwer: Wenn ein individueller, konstanter Leidensdruck in verschiedenen Lebensbereichen vorhanden ist.
Und was bringt die Abklärung?
Wittwer: Sie schafft den Vorteil, dass man Gewissheit hat, mehr Eigenverständnis entwickelt und sich gezielter Hilfe holen kann.
ADHS muss nicht zwingend eine Belastung sein. Es ist auch eine Superkraft. Wie zeigt sich das im Elternalltag?
Wittwer: ADHS hat viele positive Seiten. Wenn man diese erkennt und einzusetzen lernt, können sie tatsächlich zu Superkräften werden – besonders bezogen auf das Familienleben. Menschen mit ADHS sind oft sehr kreativ und denken „out of the box“. Das bereichert den Familienalltag ungemein. Viele können sich zum Beispiel super auf das Spiel ihres Kindes einlassen, und es fällt leicht, mit Begeisterung und Ideenvielfalt in die Welt des Kindes einzutauchen.
Man sagt Menschen mit ADHS auch grosse Empathie nach.
Wittwer: Das stimmt. Sie haben nicht selten besonders feine Sensoren für die Gefühlslage anderer. Das bedeutet, dass sie sich besonders gut in ihre Kinder hineinfühlen können. Eine achtsame Beziehungsgestaltung liegt Elternteilen mit ADHS oftmals sehr am Herzen und sie bringen ihre Energie und Ressourcen dort ein.
Und nicht zuletzt sollen innovative Denker wie Albert Einstein oder Steve Jobs ebenfalls ADHS-Symptomatik aufgewiesen haben.
Wittwer: Ich denke da zum Beispiel an den positiven Hyperfokus. Oftmals beweisen Menschen mit ADHS in individuellen Interessensgebieten viel Talent, Dynamik und Durchhaltevermögen. Und noch etwas zeichnet viele Menschen mit ADHS aus: Sie können Notfallsituationen oft gut meistern. Denn während Menschen ohne ADHS in solchen Momenten schneller überfordert sind, können Menschen mit ADHS gut improvisieren.
ADHS-Experte Prof. Hans Biegert sagte einmal: „Nicht ADHS ist das Problem, sondern, wie wir damit umgehen.“ Was müsste sich ändern, damit es Eltern mit ADHS leichter hätten?
Wittwer: Es braucht noch mehr Aufklärung und Bewusstsein. Sowohl bei Fachleuten, als auch im Umfeld von betroffenen Personen. Menschen mit ADHS erleben täglich eine Vielzahl von negativen Rückmeldungen. Das prägt den Selbstwert stark. Es wäre schön und wichtig, wenn die außergewöhnlichen Ressourcen von Menschen mit ADHS mehr Wertschätzung erhielten und bewusst im Alltag miteinbezogen würden.
Mehr Infos zu ADHS im ErwachsenenalterDie Organisation adhs20+ fördert und unterstützt die Verbreitung von Informationen zum Thema ADHS im Erwachsenenalter. Sie bietet einen Online-ADHS-Test an und betreibt eine ADHS-Anlaufstelle für Erwachsene. Mehr Infos unter www.adhs20plus.ch
Schweizerische Fachgesellschaft ADHS bietet umfangreiche Informationen zum Thema ADHS www.sfg-adhs.ch
Von KMY