Grünenaffäre in Österreich: Lügenvorwürfe gegen EU ...

12 Tage vor

Grünen-Spitzenkandidatin Lena Schilling

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Lena Schilling - Figure 1
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Im laufenden EU-Wahlkampf glänzten die österreichischen Grünen mit einem Alleinstellungsmerkmal. Die kleine Regierungspartei hatte eine Seiteneinsteigerin auf Platz eins der Wahlliste gesetzt, die die Konkurrenz alt aussehen lässt: Lena Schilling, bekannt geworden als Umwelt- und Klimaaktivistin, 23 Jahre jung, charismatisch, ein großes Talent. Die anderen Parteien setzen alle auf erfahrene Frontmänner, die jeder für sich auf mehr als doppelt so viele Lebensjahre kommen.

Schilling veröffentlicht eifrig Clips in sozialen Medien, auch in Interviews artikuliert sie meist wortgewandt und schlagfertig. Dass die Wienerin kein Parteimitglied wurde, das störte bislang nur wenige Grüne, im Gegenteil: Man frohlockte, dass sich die Personalie Schilling im Wahlergebnis mit einigen zusätzlichen Prozentpunkten niederschlagen würde. Doch die großen Hoffnungen dürften in den vergangenen Tagen wachsenden Sorgen gewichen sein.

Wie der »Standard« nun berichtet , gerät Schillings beginnende Politkarriere in ernsthafte Turbulenzen: Mehrere Grüne, Klimaaktivisten und langjährige Freunde schilderten der Wiener Tageszeitung, dass die Spitzenkandidatin seit Längerem ein angeblich problematisches Verhältnis zur Wahrheit hat. In mehreren voneinander unabhängigen Fällen soll sie Gerüchte gestreut haben, die offenbar erfunden sind.

Angeblich erfundene Belästigungsvorwürfe

Die Recherche habe mehrere Wochen gedauert, man habe mit rund 50 Personen über Schilling gesprochen, schreibt das Medium. Und, dass es Dokumente, Chats und schriftlich abgefasste Bestätigen gebe, die die Schilderungen untermauern.

Eine Causa ist besonders gut dokumentiert in einem amtlichen Papier, ausgefertigt von einem Wiener Gericht. Schilling soll verbreitet haben, der Ehemann einer langjährigen engen Freundin habe diese so sehr verprügelt, dass sie eine Fehlgeburt erlitten habe. Nachdem das Ehepaar mitbekommen hatte, was Schilling erzählt, folgten rechtliche Schritte. Schließlich verpflichtete sich Schilling dazu, ihre Behauptungen künftig zu unterlassen. Auch einen Mafia-Vergleich darf sie demnach nicht mehr wiederholen, geht aus einem Schriftstück hervor, das auch dem SPIEGEL vorliegt.

Lena Schilling - Figure 2
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Auf Anfrage des »Standard« erklärten die Grünen, Schilling habe sich lediglich »aus Sorge um eine Freundin in ihrem engsten persönlichen Umfeld« derart geäußert. Sie bedauere die daraus entstandenen Kränkungen. Aus der Partei heißt es, man habe ohnehin erwartet, dass der Wahlkampf »dreckig« werde.

Der »Standard« aber beschreibt  noch weitere Fälle, in denen Schillings Verhalten mindestens fragwürdig erscheint. So soll sie über einen Journalisten behauptet haben, er habe sie belästigt. Das Medienunternehmen habe demnach Alarm geschlagen und eine Untersuchung eingeleitet, der Job des Redakteurs schien in Gefahr. Als dann der Journalist seine Chats mit Schilling offengelegt habe, sei klar gewesen, dass der Mann sich nichts zuschulden habe kommen lassen. In einem anderen Fall soll Schilling eine Affäre mit einem anderen Journalisten erfunden haben – dieser erwog demnach zu klagen, weil er um seinen Ruf fürchtete.

Spitzenkandidatin ohne Parteimitgliedschaft: Lena Schilling mit grüner Klubchefin Sigrid Maurer (Mitte) Ende April in Wien

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Bemerkenswert ist auch Schillings Rolle beim Abgang des grünen Abgeordneten Clemens Stammler. Der Politiker war im Oktober 2023 zurückgetreten, nachdem er alkoholisiert in einem Wiener Musikklub einen Journalisten angegriffen hatte. Zu der Szene soll es gekommen sein, weil Stammler angeblich eine Frau belästigt haben soll, worauf sich der Journalist eingeschaltet habe, hieß es. Sigrid Maurer, die als Klubchefin den grünen Parlamentariern vorsteht, erklärte damals lediglich, Stammler habe eine junge Aktivistin belästigt.

Bei der Frau soll es sich um Schilling gehandelt haben, wie der »Standard« nun berichtet. Auch der Kontext stellt sich inzwischen etwas anders dar: Demnach habe Schilling mit Stammler vorher offenbar ein gutes Verhältnis gepflegt, was durch Chats belegbar sei. Schilling soll es auch gewesen sein, die den Abgeordneten zur Party eingeladen habe. Am Abend selbst wollte sie »laut Anwesenden aber nichts mit ihm zu tun haben und sprach schlecht über ihn«, schreibt der »Standard«. Weil Stammler dem Journalisten gegenüber handgreiflich wurde, zog er sich zurück und schweigt bislang öffentlich zu der Causa.

Manche sprechen von der »Spitze des Eisbergs«

Der »Standard« hatte den Grünen und Schillings Pressesprecher einen detaillierten Fragenkatalog zu all den Vorfällen geschickt, die Antwort scheint wortkarg ausgefallen zu sein. Vorgänge seien als »Gerüchte« bezeichnet worden oder zur Privatsache Schillings erklärt worden. Die Grünenspitze scheint fest entschlossen zu sein, ihre Spitzenkandidatin – intern »Spika« genannt – zu verteidigen.

Andere zeigen durchaus Problembewusstsein: Der »Standard« zitiert mehrere Grüne, die gerade die Unterlassungserklärung als »Katastrophe« bezeichnen, andere sprechen von der »Spitze des Eisbergs«. Inwieweit den Parteioberen bislang das Ausmaß der Vorwürfe gegen Schilling bekannt war, ist unklar.

Im Umfeld Schillings, aber auch bei den Grünen, wächst dem »Standard« zufolge die Sorge um die 23-Jährige, manche fürchten demnach, sie werde »verheizt«, vom Ziehen der »Notbremse« sei die Rede gewesen. Eine ihrer früheren engen Freundinnen sagte dem SPIEGEL: »Ich wünsche Lena, dass sie die Hilfe bekommt, die sie braucht, und sie auch annimmt.«

Schilling selbst wirkte vor der Veröffentlichung der Vorwürfe unverdrossen und kämpferisch. Am späten Montagnachmittag, nachdem der »Standard« bereits seine Fragen geschickt hatte, trat die Spitzenkandidatin vor dem »Verband der Auslandspresse«in Wien auf. Auf die Frage, wo sie sich in zehn Jahre sehe, sagte Schilling: »Dort, wo man mich braucht.« Nach fünf Jahren im Europaparlament werde sie Bilanz ziehen und dann entscheiden, wie es weitergeht.

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